Ein Zurück gibt es nicht mehr

Von Anett Keller · · 2008/07

Seit Diktator Suharto vor zehn Jahren gestürzt wurde, gilt Indonesien als Musterbeispiel für eine gelungene Demokratisierung. Doch viele Menschen im Inselstaat sind mit der ökonomischen Entwicklung unzufrieden.

Das Wetter ist genau so schlecht wie damals“, sagt Julianto Hendro Cahyono. Graue Wolken schieben sich über Jakarta zusammen und es dauert nicht lange, bis die ersten Regentropfen auf den Campus der Trisakti-Universität fallen. „Damals“, das ist der 12. Mai 1998. Auf dem Parkplatz, wo jetzt unter hohen Bäumen die Autos der Studierenden der Eliteuniversität stehen, hatten sich an diesem regnerischen Maitag Tausende von StudentInnen versammelt. Die Asienkrise hatte die Mittelschichtkinder politisiert. Nachdem der Wirtschaftsboom im Tigerstaat Indonesien ein jähes Ende gefunden hatte, waren sie urplötzlich von Abstiegsängsten bedroht. Wie seit Wochen forderten sie den Rücktritt von Diktator Suharto.
„Wir haben hier Geschichte erlebt und Geschichte geschrieben“, sagt der heute 35-jährige Hendro, der damals den Vorsitz des Studentensenats innehatte und die Proteste organisierte. Vier runde Gedenktafeln sind in die Platten des Parkplatzes eingelassen, jeweils ein Blumenstrauß steht daneben. Sie erinnern an die vier Trisakti-Studenten, die am Nachmittag jenes 12. Mai von Sicherheitskräften erschossen wurden. „Wir waren keine Radikalen, wir wollten nur auf Missstände aufmerksam machen“, sagt Hendro, „doch sie haben meine Kommilitonen abgeschossen wie Tiere.“
Die Schüsse an der Trisakti-Uni lösten eine Gewaltwelle aus, die in den Folgetagen rund 1.200 Todesopfer kostete. „Gleich da drüben war es“, Hendro zeigt auf die Hauptstraße vor der Universität, „da haben damals die ersten Autos gebrannt.“ Vor allem die als geschäftstüchtig bekannte chinesische Minderheit war das Opfer von Plünderungen, Vergewaltigungen und Totschlag. Ganze Straßenzüge standen in den Folgetagen in Flammen.
Am 21. Mai 1998 trat Suharto zurück, sein Nachfolger Habibie kündigte Wahlen an. Seitdem hat Indonesien drei weitere Präsidenten erlebt, der amtierende, Susilo Bambang Yudhoyono, wurde 2004 erstmals direkt vom Volk gewählt.
Die Geschichte der jungen Demokratie ist eine Erfolgsgeschichte. Wahlen verlaufen frei und ohne Gewaltausbrüche. Der Konflikt mit den Separatisten in Aceh wurde nach dem Tsunami von 2004 friedlich beigelegt (vgl. SWM 3/08). Viermal wurde die Verfassung geändert, Indonesien bekennt sich zu international geltenden Menschenrechtsnormen. Die Medien sind frei wie in kaum einem anderen asiatischen Land.

Blickt man auf so manchen autokratischen oder diktatorischen Nachbarn in Südostasien, ist Indonesien zweifellos ein Beispiel für gelungene Demokratisierung. Doch die neue Freiheit hat Schattenseiten. Radikale islamische Gruppen scharen zunehmend AnhängerInnen um sich. Die unsichere Wirtschaftslage lässt die Menschen nach einem Halt suchen. Ideologen, die „das Ausland“ und „die Ungläubigen“ für die Misere verantwortlich machen, haben leichtes Spiel. Am drastischsten zeigte sich das im Herbst 2003, als in der Touristenhochburg Kuta auf Bali mehr als 200 Menschen durch die Bomben islamischer Terroristen starben.
Dennoch sei der Islam keine Gefahr für die Demokratie, sagt Franz Magnis Suseno. Viele der heutigen Probleme Indonesiens seien der Schwäche der politischen Parteien und der allgegenwärtigen Korruption geschuldet. Kritisch werde es vor allem, wenn gegen die wachsende Armut nichts getan werde, so Magnis Suseno. Der deutsche Jesuitenpater lebt seit 40 Jahren in Indonesien. Täglich braust der über 70-jährige Professor mit seiner Vespa durch den Moloch Jakarta, wo er an der Driyakarya-Universität Philosophie lehrt. Suseno, von den IndonesierInnen als moralische Instanz verehrt, stellt seiner Wahlheimat zwar grundsätzlich gute Noten aus. „Im Prinzip läuft der Laden und das Land macht auch wirtschaftliche Fortschritte.“ Doch zu viele Menschen haben das Gefühl, auf der Strecke zu bleiben. Und zu wenige verteidigen die demokratischen Errungenschaften. „Auf die Frage, wer kümmert sich um die Arbeiterrechte oder wer ist für die Bauern da, da gibt es keine Antwort“, sagt Suseno. Er sieht die Gefahr, dass die Demokratie ihre Legitimation verliert: „Die Desillusionierung wird kommen, wenn nichts geschieht.“
Indonesien ist eigentlich ein reiches Land, es besitzt Vorkommen an Erdöl und Erdgas, Kohle sowie Gold und Kupfer. Vulkanerde und tropisches Klima bieten Fruchtbarkeit für die landwirtschaftliche Produktion. Doch trotz eines Wirtschaftswachstums von rund fünf Prozent lebt etwa die Hälfte der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag.
Es verwundert daher nicht, dass viele Menschen sich nach der vermeintlichen ökonomischen Sicherheit unter Suharto zurück sehnen. Für Viele ist der kürzlich verstorbene Militärherrscher noch immer der „Vater des Aufbaus“. In Giribangun in Zentraljava, wo Suharto Ende Jänner in einem Staatsbegräbnis zur letzten Ruhe gebettet wurde, finden sich Tag für Tag Hunderte von Verehrern und Verehrerinnen des Toten ein. Sie erklimmen ehrfürchtig die Stufen, die zum Pavillon mit Suhartos Grabstätte führen, streuen Blumen, singen und beten.

Zuweilen hören sich auch demokratisch gewählte Führer des Landes an, als würden sie der Vergangenheit nachtrauern. Vizepräsident Jusuf Kalla, der einer der reichsten Familien des Landes entstammt, betont gern, dass Demokratie im westlichen Stil nur für Unruhe sorge – was Gift für die Wirtschaft sei. Ein solcher Diskurs erinnert fatal an die alte Rhetorik von der Effizienz der Entwicklungsdiktatur und von den „asiatischen Werten“, die unvereinbar seien mit dem westlichen Demokratiemodell. Sie hatte jahrzehntelang zum Standardrepertoire von Südostasiens autoritären Herrschern wie Suharto oder Singapurs Expremier Lee Kuan Yew gehört.
Auch in den Straßen Jakartas hört man viele Lobgesänge auf die „alte Zeit“. Für Daeng Labuang ist die Sache klar: „Unter Suharto war alles besser“, sagt der agile 68-Jährige, der seit über 30 Jahren als Parkwächter in Jakarta arbeitet. „Suharto war schlau, der verstand zu regieren. Den Bauern gab er Dünger und Vieh. Auch uns Städtern ging es gut, das Essen war reichlich, die Schule war billig.“ Daeng rennt los, der nächste Autofahrer sucht einen Parkplatz. Zurück auf seiner Bank, beginnt er zu klagen. In den letzten Jahren habe er den Großteil seines Verdienstes für das Schulgeld seiner Kinder aufwenden müssen, die sollten schließlich etwas Besseres werden als er. Neun sind es, „alle von einer Frau“, scherzt Daeng und lacht ein lautes, schnarrendes Lachen. Das jüngste mache gerade sein Abitur. Für ein Studium reichte das Geld jedoch bei keinem.
Freut er sich darüber, heute in einer Demokratie zu leben, in der er frei wählen und seine Meinung sagen kann? Daeng winkt ab: „Die Wahlen können ohne mich stattfinden!“ Er verfällt ins Schimpfen: „Was ist das denn für eine Demokratie, in der alle nur reden und jeder nur an sich denkt! An der Korruption ändert sich dadurch nichts!.

Die Korruption ist das größte Entwicklungshindernis des Landes, sie macht die Anstrengungen der Armutsbekämpfung zunichte, sie behindert Reformen im Justizsystem ebenso wie bei Polizei und Militär. Indonesien ist eines der korruptesten Länder der Welt, nach dem aktuellen Corruption-Perceptions-Index von Transparency International liegt es auf Platz 143 von 180 Ländern.
„Wir haben politisch viel erreicht.“, sagt Ex-Studentenführer Hendro im Rückblick auf die letzten zehn Jahre. „Ökonomisch jedoch fast nichts.“ Hendro, heute Abteilungsleiter bei einer großen Bank, plant nun, selbst für ein politisches Amt zu kandidieren. Die Lobeshymnen auf Indonesiens Wirtschaftwachstum dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land noch immer im Griff der alten Eliten sei, so Hendro. In der Tat liest sich die Forbes-Liste der reichsten Indonesier wie ein „Who is who“ der alten Freunde von Suharto. Der Militärmachthaber selbst wurde nie für die grassierenden Menschenrechtsverletzungen während seiner Amtszeit vor Gericht gestellt. Und auch nicht dafür, dass er und seine Familie in den 32 Jahren von Suhartos Herrschaft Milliarden von Dollar anhäuften.
Auch Usman Hamid ist ein Trisakti-Absolvent – und heute einer der führenden Menschenrechtler Indonesiens. Er leitet die „Kommission für die Verschwundenen und die Opfer von Gewalt“ (Kontras). Usman glaubt nicht an einen Rückfall in vergangene Zeiten. „In Asien gibt es zwar einen starken Trend zum Autoritarismus. Aber wir sollten nicht sagen, wir haben nichts erreicht. Das soziale Kapital der letzten Jahre kann uns niemand mehr nehmen. Ein Zurück gibt es nicht mehr.“

Anett Keller hat in Leipzig und Yogyakarta Journalistik, Politikwissenschaft und Indonesisch studiert. Sie lebt als freie Journalistin in Berlin und schreibt unter anderem für The Asia Pacific Times und die taz. Soeben erschien eine von der Autorin redaktionell betreute Indonesien-Broschüre beim DGB-Bildungswerk: www.nord-sued-netz.de/de/materialien-downloaden/aktuelle-brosch-ren/index.php

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