Anfang 1979, vor 30 Jahren, reist die damals 22-jährige Olivia Heussler erstmals nach Mittelamerika. Die Grenzen Nicaraguas blieben ihr wegen der entfesselten Repression der Somoza-Schergen gegen den sandinistischen Aufstand verschlossen, doch in San José, der Hauptstadt Costa Ricas, lauscht sie am Hauptplatz gebannt der Stimme Ernesto Cardenals, der vom Nachbarland aus am Sturz der Diktatur in seiner Heimat mitwirkt. Auf der Schiffsreise zurück nach Europa „entschied ich mich endgültig, Fotografin zu werden. Auf der vierzehntägigen Überfahrt, inspiriert von den wechselnden Stimmungen des Atlantiks, hatte ich Zeit, meine Zukunft zu überdenken. Ruhe und Sturm. Irgendwann wurde mir klar, was ich wollte: mit der Kamera dort präsent sein, wo Menschen in Bewegung waren, und zwar in Richtung politischer, sozialer und kultureller Selbstbestimmung“.
Doch es hält sie nicht lange in ihrer Heimat. Die ausgebildete medizinisch-technische Assistentin kehrt nach Nicaragua zurück, arbeitet dort u.a. für die vom Österreicher Leo Gabriel gegründete Nachrichtenagentur APIA und für Medien in Europa und den USA. Und immer mehr wird sie als Berichterstatterin in den grausamen Krieg hineingezogen, den die so genannten Contras – vom CIA ausgebildete und unterstützte Söldnertruppen – gegen die sandinistische Regierung entfachen, erlebt hautnah die Explosion von Minen, das Geräusch einschlagender Kugeln, den Tod.
„Verwundeter wird aus Helikopter geladen. Militärbasis Apanás, Departement Jinotega, 1985″. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt den Alltag im Krieg: Zwei Soldaten tragen ihren verletzten Kollegen, zwei andere stehen mit der Bahre bereit. Er ist einer, der noch Glück hatte, mit dem Leben davon kam. Tausende andere fanden in dem mörderischen Würgegriff des unerbittlichen Goliath aus dem Norden den Tod.
Das Foto, wie der damalige Innenminister Tomás Borge am Sarg des von den Contras erschossenen FSLN-Kommandanten Enrique Schmidt trauert, erschüttert in seiner sprachlosen Ergriffenheit. Diese Ergriffenheit empfanden alle, die damals in Nicaragua lebten und arbeiteten – auch der Autor dieser Zeilen: Enrique, der deutschstämmige Mustersandinist und spätere Telekommunikationsminister, in der letzten Phase des sandinistischen Aufstands Europa-Repräsentant der FSLN, mit dem der Autor Anfang 1979 in Wien geheim Bundeskanzler Kreisky besucht hatte, liegt im Sarg. Das Foto vermittelt eindrücklich die schweigsame Trauer, die damals das ganze Land erfasste.
Doch selbst im Krieg spürt die Schweizer Fotografin die Zeichen des Lebens auf: das ansteckende Lachen eines mit einem meterlangen Patronengurt behängten Soldaten, der Papagei, der es sich auf einem Gewehrlauf bequem gemacht hat, ein soldatisches Liebespaar.
Olivia Heussler hält Nicaragua auch nach der Abwahl der Sandinisten im Februar 1990 die Treue, arbeitet eine Zeit lang für die Schweizer Entwicklungshilfe, sammelt nach dem verheerenden Wirbelsturm „Mitch“ 1998 in ihrer Heimat Geld für die Katastrophenopfer. Als sie 2004, nach Fotoreportagen in Palästina und Pakistan, wieder nach Nicaragua zurückkehrt, merkt sie, dass sich vieles verändert hat. Vor allem zuungunsten der Frauen und ihres Kampfes um mehr Autonomie.
Es gelingt der Fotografin fast immer, den Abgebildeten ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, ob es nun die erschöpften Mitglieder eines Frauenbataillons im Krieg sind, Minenopfer in einem Rehabilitationszentrum oder das Reinigungspersonal in einem Badeort an der Pazifikküste. Fast immer ist die Nähe spürbar, die wie ein unsichtbares Band die Objekte der Abbildung und die Fotografin verbindet. Hier wirkt sich die über 25-jährige Beziehung von Olivia Heussler zu Nicaragua aus, deren Geschichte sie in einem Nachwort ausführlich darstellt. Der Auslöser für ihre fotografische Arbeit ist eben ihre ungemein starke Anteilnahme an dem, was sich im sandinistischen Nicaragua abspielt. Die tiefen und vielfältigen Beziehungen ihres eigenen Lebens zu diesem Land und seiner Revolution, die Ernesto Cardenal „die humanste Revolution in der Geschichte der Menschheit“ genannt hat.
Ob bewusst oder unbewusst seitens der Fotografin: Auf den Bildern des postsandinistischen Nicaragua treten die Menschen in den Hintergrund oder verschwinden völlig, machen Tieren oder Objekten Platz. Eine neue, unpersönliche, entfremdete Zeit scheint angebrochen zu sein.
Eine bestechende, ergreifende Bilddokumentation eines Vierteljahrhunderts nicaraguanischer Geschichte.
Olivia Heussler:
Der Traum von Solentiname
Bildband. Edition Patrick Frey,
Zürich, Mai 2009,
280 Seiten, 250 Fotos, € 44,-