Die ganze Lektüre hindurch plagt den Rezensenten die eine große Frage: Warum nehmen so viele Menschen aus Afrika das tödliche Risiko auf sich, zur Mittelmeerküste zu gelangen, dem Einfallstor nach Europa? Warum vertrauen sie sich skrupellosen Schleppern an, durchqueren eine Wüste, in der kein anderes Gesetz gilt als das Gesetz des Stärkeren, wo sie bei den zahlreichen Polizei- und Militärposten gedemütigt, misshandelt und ausgeraubt werden? Warum nehmen ein Computerfachmann aus Bamako, ein Naturwissenschaftler aus Conakry, eine Krankenschwester aus Lagos das tödliche Roulette-Spiel auf sich, in die Festung Europa einzudringen und sich dort als illegale Arbeitskräfte zu verdingen und weiter gedemütigt und ausgebeutet zu werden? Oder nach all den höllischen Strapazen, Gefahren und Entwürdigungen überhaupt gleich nach der Ankunft in der Endstation Sehnsucht wieder abgeschoben zu werden zum Ausgangspunkt ihrer Odyssee, von dem sie einige Monate oder ein Jahr zuvor aufgebrochen waren?
Wir im wohlhabenden Teil der Welt geborenen und lebenden EuropäerInnen werden auf diese Frage wahrscheinlich gar keine Antwort finden können.
„Alle wollen hier weg, weil in Afrika alles den Bach runtergeht. Schau dir Nigeria an. Sie behaupten, es geht Nigeria wirtschaftlich gut. Aber daran verdienen nur zwanzig Familien. Und was machen die anderen? Sie hauen ab“, schildert ein Nigerianer seine Beweggründe, die Heimat zu verlassen und sich auf die gefährliche und teure Reise zu begeben. Oder ein anderer Flüchtling: „Man kann hier nichts ändern, deshalb wollen wir weg.“ Diese Aussagen von zwei Westafrikanern, die quer durch die Sahara nach Libyen oder Tunesien wollen, um von dort aus nach Italien überzusetzen, mag eine Vorstellung geben vom Ausmaß der Hoffnungs- und Perspektivelosigkeit Hunderttausender, ja Millionen von Menschen, die das tödliche Experiment dieser Reise auf sich nehmen.
Im vergangenen Jahrzehnt sollen an die zehntausend Menschen auf der Überfahrt von Nordafrika nach Italien ertrunken sein, heißt es; von den knapp 37.000 Bootsflüchtlingen, die 2008 in Italien landeten, wurde fast die Hälfte gleich wieder abgeschoben. Im selben Jahr hatte Präsident Berlusconi mit seinem libyschen Amtskollegen Ghadafi ein Abkommen geschlossen, in dem sich letzterer verpflichtet, im Austausch gegen italienische Wirtschaftshilfe härter gegen in Libyen lebende oder dort ankommende Flüchtlinge vorzugehen. Nach dem Abkommen brach in Libyen eine veritable Hexenjagd auf die afrikanischen „Illegalen“ los.
Fabrizio Gatti: Bilal.Als Illegaler auf dem Weg nach Europa.
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Verlag Antje Kunstmann, München 2010, 457 Seiten,
€ 25,60
Über den gefährlichen Weg der Bootsflüchtlinge nach Europa erscheinen in den Medien immer wieder Berichte. Über den Weg der unzähligen Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika quer durch den Kontinent zur nordafrikanischen Küste ist hingegen wenig bekannt. Oder war wenig bekannt. Bis der italienische Journalist Fabrizio Gatti, Reporter beim Wochenmagazin „L’Espresso“, es wagte, ausgehend von der senegalesischen Hauptstadt Dakar durch Mali und Niger die Reise nach Libyen und Tunesien nachzuvollziehen. Und sich dann auch noch auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa einsperren ließ.
Obwohl Gatti der einzige Weiße ist, der diese moderne Sklavenroute befährt, ist der Italiener voll integriert in die Gesellschaft der Verzweifelten, spricht mit vielen, hört viele Geschichten – und muss zusehen, wie an den Kontrollposten Polizisten mit Gummischläuchen auf die Flüchtlinge losschlagen, um ihnen ihr letztes Geld abzunehmen. Er erlebt, wie Afrikaner von Afrikanern die schlimmsten Demütigungen, Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Folterungen erfahren. Am allerschlimmsten ist die Gewalt gegen die MigrantInnen in Libyen, dem Land des Präsidenten Ghadafi, des großen Predigers der afrikanischen Einheit.
Auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa, an deren Küste sich Gatti als schiffbrüchiger Kurde retten lässt, erfährt der nunmehr incognito agierende Journalist die europäische Seite der gruseligen Medaille. Es gelingt ihm, in den „Käfig“ zu kommen, dem für Journalisten streng verbotenen Anhaltelager für Flüchtlinge, wo diese in völliger Rechtlosigkeit dahinvegetieren. Dort erfährt er auch den Gipfel des Zynismus. Nach nicht nachvollziehbaren Kriterien wird ein Teil der MigrantInnen wieder zurück nach Afrika befördert, während ein anderer Teil mit einem Ausweisungsbescheid und der Auflage, binnen einer Woche das Land zu verlassen, in die „Freiheit“ entlassen wird. Natürlich wissen die Behörden, dass diese nicht freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückreisen, sondern in den Obst- und Gemüseplantagen oder am Bau landen. Dort werden die „Illegalen“ dringend gebraucht als riesige billige Schwarzarbeitsmaschine.