Es ist so etwas wie das Wunder von Santiago: Am Ende ihrer Amtszeit genießt Michelle Bachelet unerhört gute Umfragewerte. Chiles erste Präsidentin, der nach dem ersten Jahr im Amt selbst Verbündete mit Macho-Kommentaren in den Rücken fielen, erntet kurz vor der Präsidentenwahl am 13. Dezember rund 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung. Die Lorbeeren hat sie sich vor allem mit ihrer Sozialpolitik verdient: Das System der Altersvorsorge wurde reformiert, der Zugang zu medizinischen Leistungen verbessert. Erstmalig erhalten auch die Ärmsten Anspruch auf eine kleine Grundrente. Finanzierbar war das auch, weil Chile durch den Rohstoffboom jahrelang Höchstpreise für sein Hauptexportprodukt Kupfer einstrich.
Doch trotz aller Sympathie für die Amtsinhaberin – nach zwanzig Jahren an der Macht steht die Concertación, die regierende Koalition aus Sozialisten und Christdemokraten, vor dem Abgrund. Das Mitte-Links-Bündnis ist zerstritten, etliche prominente Köpfe haben es in den vergangenen Jahren verlassen: Manche sind enttäuscht, weil ursprüngliche Ziele aufgegeben wurden, andere beklagen eine Kultur der Korruption. Erst vor kurzem wechselte mit Fernando Flores ausgerechnet ein ehemaliger Minister Salvador Allendes ins Lager von Sebastián Piñera, dem Kandidaten der Rechten, der sich gute Chancen ausrechnet, Präsident zu werden.
Ein Erbe Pinochets im Präsidentenpalast, der Moneda? Piñera selbst weist das weit von sich. Mit einem Youtube-Video wollte der Kandidat unlängst beweisen, dass er 1988 zu den Unterstützern des „No“ gehörte, der Oppositionsbewegung gegen den Diktator. Damit will er Stimmen in der liberalen Mittelschicht fischen, die mit den rechten Parteien traditionell nichts zu tun haben will. Aber das Image-Lifting des Mannes, der sich als Aktienjongleur auf die Forbes-Liste der reichsten Menschen hochgearbeitet hat, ist wenig glaubwürdig. Dass er dennoch in den Umfragen die Nase vorn hat, liegt auch an der Schwäche des Kandidaten der Concertación. Der Christdemokrat Eduardo Frei, der das Land bereits von 1994 bis 2000 regiert hat, verspricht die Fortsetzung der sozialdemokratischen Politik Bachelets, kann aber kaum glaubhaft machen, dass das einst so starke Projekt „Concertación“ noch regierungsfähig ist.
In die Glaubwürdigkeitslücke ist einer gesprungen, der das gesamte Szenario auf den Kopf gestellt hat. Marco Enríquez-Ominami vertritt mit 36 Jahren eine neue Generation und zählte schon als sozialistischer Abgeordneter zur Gruppe der „Widerspenstigen“. Wie Frei verspricht er mehr soziale Leistungen, mit Piñera verbindet ihn die Rede vom „Cambio“, der Notwendigkeit, frischen Wind und Effizienz in die chilenische Politik zu bringen. In wenigen Monaten ist Enríquez-Ominami seinem Konkurrenten Eduardo Frei bedrohlich nahe gekommen. Das hat mit seinem medialen Talent zu tun, aber auch mit der familiären Aura, die ihn umweht: Er ist der Sohn von Miguel Enríquez, dem Gründer des linksrevolutionären MIR, der von Pinochets Schergen 1974 erschossen wurde. Aber ist der junge TV-Regisseur, der seine Kindheit im französischen Exil verbrachte, auch ein linker Politiker? Einer seiner ersten Vorschläge war ausgerechnet die Teilprivatisierung des staatlichen Kupferbergbaus – nicht nur für Chiles Sozialisten ein Sakrileg.
Der einzige Kandidat mit genuin linken Forderungen ist Jorge Arrate – einst Minister unter Eduardo Frei. Heute vertritt er die außerparlamentarische Linke, insbesondere die Kommunistische Partei. Mit ihm gäbe es eine Verstaatlichung privater Bergbauunternehmen, ein Streikrecht, das seinen Namen verdient, eine Verfassunggebende Versammlung, aber keine Riesenstaudämme in Patagonien. Bloß kann Arrate nicht mehr als ein paar Prozent der Stimmen erwarten. Die dürften bei einer Stichwahl auf das Konto von Eduardo Frei gehen, schon weil die Concertación für die Parlamentswahlen eine partielle Allianz mit den Kommunisten eingegangen ist.
Ob Frei es aber in die zweite Runde schafft oder ob „Marco“ den Durchmarsch macht, ist völlig offen. Genauso offen wie die Frage, ob sich der Unterlegene dazu durchringt, seine Anhänger auf den jeweils anderen einzuschwören. Deshalb könnte am Ende Sebastián Piñera in die Moneda einziehen, auch wenn er in Umfragen bislang nur 40 Prozent der Stimmen für sich verbucht.
In wirtschaftlicher Hinsicht würde das wohl kaum einen Unterschied machen zu den Regierungen der Concertación, die den neoliberalen Konsens nach der Diktatur nie wirklich aufgebrochen hat. Echte Fronten gibt es dagegen bei den „Wertefragen“: Die ultrakatholische Rechte hinter Piñera kämpft gegen Familienplanung und homosexuelle Lebenspartnerschaften, aber für eine stärkere Kriminalisierung weicher Drogen. Hier hat Chile, das erst seit 2004 ein Scheidungsrecht kennt, am meisten zu verlieren.
Claudius Prößer arbeitet in der Berlin-Redaktion der Tageszeitung taz. Gegenwärtig verbringt er seine Elternkarenz in Chile und schreibt auf
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