Längst sind es nicht nur die Studierenden, die in den Straßen des Landes protestieren. Auch in anderen Sektoren der Bevölkerung verbreitet sich Unmut, etwa in der Schlüsselindustrie Kupfer – und immer mehr wird das neoliberale System an sich in Frage gestellt.
Chile brüstet sich damit, das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in ganz Lateinamerika zu sein, es ist stolz auf die makroökonomischen Erfolge seiner Wirtschaftspolitik. Im vergangenen Jahr lag das Wachstum bei 5,3 Prozent; für heuer hat die OECD 6,2% prognostiziert. Doch im Schatten seiner wirtschaftlichen Erfolgsbilanz, die, ähnlich wie in Peru, den hohen Weltmarktpreisen für die exportierten Rohstoffe zu verdanken ist, wächst der Unmut über die soziale Realität im Lande. Immer noch lebt ein beträchtlicher Anteil in Armut, 20% der Bevölkerung verfügen über 80% der Ressourcen. Auch die Mittelklasse ist von der tiefen sozialen Spaltung im Land betroffen; sie ist jedoch noch weniger kampfbereit, sondern flüchtet sich in einen scheinbaren Wohlstand auf Kredit.
Nicht nur die MittelschülerInnen und Studierenden stellen die Grundpfeiler und die Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Frage. Für den 25. und 26. August hatte die große Gewerkschaftszentrale CUT zu einem Generalstreik aufgerufen, dem im ganzen Land mehr als 600.000 Personen folgten. 82 soziale und gewerkschaftliche Organisationen forderten Steuersenkungen, eine Rentenreform und eine Umverteilung des Wirtschaftswachstums zugunsten des Gesundheits- und Bildungswesens.
Einen Monat zuvor war es zu einem symbolträchtigen Streik gekommen. Fast 50.000 Arbeiter von Codelco, der staatlichen Kupfergesellschaft, waren in den Ausstand getreten, um gegen die „verdeckte Privatisierung“ ihres Unternehmens zu protestieren. Codelco ist der größte Kupferproduzent der Welt, der vor den neoliberalen Reformen der Pinochet-Ära 95% des Kupferabbaus in Chile kontrollierte – heute sind es gerade noch an die 30%. Dennoch erzielte das Unternehmen 2010 einen Nettogewinn von 5,78 Mrd. US-Dollar. Zufällig – oder vielleicht auch nicht – erfolgte der Streik gerade zum 40. Jahrestag der Verstaatlichung der Kupferproduktion in Chile unter Präsident Salvador Allende.
Um die Rolle des Kupferbergbaus in der chilenischen Wirtschaft zu verstehen, muss man in die Zeit der Militärdiktatur unter General Pinochet zurückkehren, als man begann, die Strukturreformen des neoliberalen Modells durchzupeitschen. Dieses System stand in direktem Gegensatz zum etatistischen Modell der Regierung Allende, das dem Staat einen wichtigen Einfluss gerade in den Schlüsselindustrien zugestand. In den Zeiten der Diktatur wurde der Handel dereguliert, die Investitionen liberalisiert und der Privatsektor konnte uneingeschränkt seine hohen Profite lukrieren. Die Idee dahinter war, dass die privaten Akteure dynamischer und effizienter wären als die staatlichen.
Das von den so genannten „Chicago Boys“ – einer Gruppe chilenischer, an der Universität Chicago bei Milton Friedman ausgebildeter Ökonomen – ausgearbeitete Modell sah u.a. Maßnahmen zur Förderung des Außenhandels, etwa beträchtliche Reduzierung der Exportsteuern, sowie der ausländischen Investitionen vor. Besonders dieser Punkt führte zum Abbau der Wirtschaftssouveränität des Staates. Auch andere wichtige Sektoren der heimischen Wirtschaft wurden de facto privatisiert, und zwar nicht nur im produktiven Agrar- und Industriesektor, sondern auch in den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Vorsorge. Der größte und folgenschwerste Verlust lag jedoch zweifellos in der Verschleuderung der Bergbauressourcen, die zu ungefähr 60 Prozent an ausländische Investoren gingen.
Die neuen Unternehmen zahlten 25 Jahre lang keine Steuern, indem sie angaben, „mit Verlust“ zu arbeiten. Nach Schätzungen von Fachleuten verlor Chile im Bergbausektor zwischen 1985 und 2004 über neun Milliarden Dollar an entgangenen Steuern und Konzessionsabgaben. Erst seit 2005 müssen die großen Unternehmen eine Bergbausteuer entrichten.
Nach dem verheerenden Erdbeben vom Februar 2010 hat Präsident Sebastián Piñera zum „Wiederaufbau des Landes“ diese Steuer erhöht und gleichzeitig beschlossen, bis zum Jahr 2023 die Steuern und Abgaben im Bergbausektor einzufrieren. Alle transnationalen Konzerne wie BHP Billiton, Antofagasta Minerals, Anglo American, Xstrata und Freeport-McMoRan haben dieser Regelung mit Freuden zugestimmt.
Durch diese Steuererhöhung und die gestiegenen Kupferpreise hat sich der Anteil der Einnahmen aus dem Bergbausektor am Staatshaushalt beinahe verdoppelt. Auch die Einnahmen der großen Bergbauunternehmen stiegen beträchtlich, was nicht der guten Geschäftsführung der Konzerne zuzuschreiben ist, sondern der immer noch geringen Steuerbelastung.
Auch in anderen Bereichen verbreitet sich der Unmut. Die Klagen über die Mängel im öffentlichen Gesundheitssystem mehren sich: schlechte Behandlung, schlechte Infrastruktur. Aber auch das private Gesundheitswesen wird kritisiert; selbst der Senatspräsident klassifizierte die Führungsclique von Isapres, dem 1981 geschaffenen Verband der privaten Institutionen in der Gesundheitsversorgung, als „Kriminelle mit Hemd und Krawatte“.
Das Rentensystem ist ein weiterer Konfliktherd. Seit der Abschaffung der öffentlichen Pensionsversicherung unter Pinochet und der Schaffung der AFP, der privaten Pensionsfonds, haben diese vor allem ihre Fähigkeit des sozialen Ausschlusses perfektioniert. Die Pensionen erreichen oftmals nicht einmal die Hälfte des Mindestlohns von umgerechnet 250 Euro – während ein Fahrschein für den Bus oder die Metro einen Euro kostet.
Nach dem letzten Wettbewerbsbericht 2011 – 2012, herausgegeben vom Weltwirtschaftsforum, steht Chile dank seines soliden institutionellen Rahmens, der Marktliberalisierung, dem hohen Wettbewerb, dem effizienten Finanzsektor und dem flexiblen Arbeitsmarkt weiterhin an der Spitze der Nationalökonomien in Lateinamerika und der Karibik. Gleichzeitig hat das halbstaatliche Institut für sozioökonomische Marktforschung (CASEN) erhoben, dass 2,564 Millionen Menschen, das sind 15,1% der Bevölkerung, in Armut leben. Chile gleicht immer mehr einem Druckkochtopf, der sich dem Siedepunkt nähert.
Übersetzung aus dem Spanischen von Werner Hörtner.
Héctor Leonardo Fuentes studierte an der Universität von Santiago de Chile Journalismus und arbeitet als Reporter für mehrere chilenische Medien.
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