Ein Plädoyer für Integration

Von Latha Janet · · 2006/02

Latha Janet ist die einzige blinde Lehrerin in ihrem Dorf in Südindien. Sie rät zu integrativem Unterricht – aus eigener Erfahrung.

Ich stamme aus einer armen christlichen Familie. Mein Vater war ein Landarbeiter, der vielleicht 100 Rupien am Tag verdiente (umgerechnet ca. 1,9 Euro). Ich habe vier ältere Brüder, einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Ich kam blind zur Welt. Auch mein jüngerer Bruder ist blind. Als ich klein war, schlugen Ärzte im lokalen Regierungskrankenhaus eine Augenoperation vor. Meine Eltern waren absolut dagegen. Sie hatten Angst, dass etwas schief gehen könnte. Ich war damals das einzige Mädchen der Familie, und sie hatten mich sehr gern.
Die Volksschule besuchte ich in meinem Dorf Melpalai (60 km von der Südspitze Indiens entfernt). Meine älteren Brüder brachten mich und meinen jüngeren Bruder zur Schule und holten uns wieder ab. Die anderen Kinder in der Schule waren sehr hilfsbereit. Ich passte immer sehr gut auf, und meine LehrerInnen waren sicher, dass ich alles richtig beantworten konnte. Gegen Ende der vierten Klasse schlug ein Mitarbeiter der Blindenschule der Church of South India meinen Eltern vor, mich und meinen jüngeren Bruder in seine Schule zu schicken. Sie war etwa 20 Kilometer weit entfernt. In ein Internat zu gehen war mir ein Gräuel. Aber meine Eltern meinten, dass wir einen Beruf erlernen würden.

Ich fühlte mich von Anfang an unwohl in dieser Schule. Ich vermisste meinen Vater und meine Mutter. Ich sehnte mich zurück nach Hause und danach, mit meinen Geschwistern zu spielen. Dass ich den ganzen Tag mit blinden SchülerInnen zusammen war, störte mich am meisten. Nicht dass ich sie nicht mochte, aber ich war an die Atmosphäre einer normalen Schule gewöhnt. Es gefiel mir, wenn es lustig zuging, und es machte mir Spaß, mich mit FreundInnen herumzutreiben. Diese Sonderschule machte mich lustlos.
Irgendwie konnte ich ein Schuljahr positiv abschließen und lernte die Brailleschrift. Die sechste Klasse machte ich in einer normalen Schule in der Nähe, wohnte aber weiterhin im Heim der Blindenschule. Das war ein Experiment. Die Schulbehörden wollten ausprobieren, ob integrativer Unterricht funktioniert. Da ich eine gute Schülerin war, schickten sie mich im nächsten Jahr auf ein Mädcheninternat. Ich hatte viele Freundinnen, die mich als ihresgleichen betrachteten, obwohl ich blind war. Ich war dort die erste integrativ unterrichtete Schülerin und wurde beim Lernen von einer Integrationslehrerin unterstützt.
Meine Eltern und Brüder wollten mich aufs College schicken. Aber damals hatte ich schon Angst vor Internaten. In meinem letzten Schuljahr fiel in der Nacht häufig der Strom aus. Einmal stahl ein Einbrecher Kleider und Geld aus einem der Räume. Nach diesem Vorfall fürchtete ich mich so sehr vor Dieben, dass ich mich weigerte, allein zu sein, wenn der Strom ausgefallen war. Zwei Jahre lang weigerte ich mich, in ein College mit Internat zu gehen, und vertrödelte meine Zeit zu Hause. Schließlich entschloss ich mich, in ein normales College zu gehen. Ich war dort die erste blinde Schülerin und auch das erste Mitglied meiner Familie, das ein College besuchte.

Jeden Tag in überfüllten Bussen zum College zu fahren war mühsam. Außerdem war mein Arbeitspensum gewaltig. Mit der langsamen Brailleschrift mitzuschreiben kam nicht in Frage. Ich borgte mir in der Regel die Mitschriften meiner Schulkolleginnen aus, und nach dem College ging ich zwei Kilometer zu einer jungen Frau, die mir die Mitschriften vorlas, sodass ich sie in Braille schreiben konnte. Das dauerte drei bis vier Stunden. Ohne Unterbrechung in Braille zu schreiben ist harte Arbeit; meine Schultern und meine Finger taten mir weh. Jeden Abend kam ich sehr müde nach Hause. Ich konnte weder meine Hausarbeiten machen noch mich ordentlich auf den nächsten Schultag vorbereiten. Monatlich musste ich der jungen Frau 100 Rupien von meinem kleinen Stipendium bezahlen. Meine Abschlussnoten waren nicht gerade blendend.
Zwei Jahre nach meinem Collegeabschluss heiratete ich. Mein Mann, William Rajkumar, ist nicht blind. Er ist Maurer. Er ist sehr hilfsbereit und verständnisvoll. Wir haben zwei Kinder, und Gott sei Dank sehen beide gut. Anfang 2005, neun Jahre nach meinem Collegeabschluss, bekam ich eine Arbeit bei Cadre India, einer NGO, die von (der britischen Hilfsorganisation; Anm. d. Red.) Sight Savers International unterstützt wird. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Im Juli wurde ich Integrationslehrerin bei dieser NGO.
Ich rate Eltern, ihre Kinder nicht in Sonderschulen zu schicken. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es besser ist, eine integrative Schule zu besuchen und mit SchülerInnen zusammen zu sein, die nicht blind sind. Wenn blinde SchülerInnen nur mit ihresgleichen zusammen gesteckt werden, woher sollen sie dann wissen, was andere SchülerInnen tun? Sollten sie nicht dazu befähigt werden, mit Menschen zu leben, die nicht blind sind? Auch SchülerInnen ohne Behinderung müssen lernen, wie man mit behinderten SchülerInnen umgeht und ihnen hilft.

J. Latha Janet sprach mit M. Suchitra von der Medieninitiative „The Quest Features & Footage“ (http://questfeatures.blogspot.com) in Kerala.
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