Die chilenischen Studierenden demonstrieren seit mehr als drei Monaten gegen das teuerste Bildungssystem der Welt. Doch es wird immer deutlicher, dass sich ihr Kampf – und der anderer Gesellschaftssektoren – gegen das von der Diktatur geerbte neoliberale Entwicklungsmodell richtet.
Am 4. August erwachte das Zentrum von Santiago, der Hauptstadt Chiles, wie im Belagerungszustand: an allen Ecken und Enden Polizeiaufgebote und in den Straßen Barrikaden. Die Weigerung der Regierung, einen vom Chilenischen Studentenverband Confech ausgerufenen Protestmarsch über die Alameda, die wichtigste Verkehrsader der Hauptstadt, zu genehmigen, hatte zur größten Massenmobilisierung in den letzten 20 Jahren geführt.
Von früh an strömten die Studierenden auf die Plaza Italia, den Ausgangspunkt für die Demonstration, wo sie von einem Aufgebot von 500 Polizisten mit Wasserwerfern empfangen wurden. Diese empfanden dieses Verhalten als Provokation und als Angriff auf die verfassungsmäßig garantierte Versammlungsfreiheit. Gewalttätige Auseinandersetzungen flammten auf und verbreiteten sich rasch auf die Universitäten, Mittelschulen, Parks und Straßen. Die Metro der Hauptstadt musste streckenweise ihren Betrieb einstellen. Tränengasschwaden verbreiteten sich in der Stadt, und die Börse von Santiago erlebte ihren schlimmsten Kursverfall seit drei Jahren.
In den Mittagsstunden veröffentlichte CEP, das wichtigste Meinungsforschungsinstitut des Landes, eine erste Umfrage. Die Regierung von Sebastián Piñera erhielt demnach eine Zustimmung von 26 Prozent – der schlechteste Wert einer Regierung seit dem Ende der Diktatur –, während eine große Mehrheit die staatliche Bildungspolitik verurteilte und den Kampf gegen die hohen Studiengebühren unterstützte.
Fast gleichzeitig mit der Verlautbarung der Umfrageergebnisse wurde wegen einer Bombendrohung das Gebäude des Fernsehsenders Canal 13 – der einer der mächtigsten Unternehmensgruppen Chiles gehört – geräumt. Als die Repression der Polizei unerträglich wurde und Santiago immer mehr einer belagerten Stadt glich, rief Camila Vallejo, Führerin der Confech, über Twitter zu einem Cacerolazo auf, einer Protestform aus der Zeit der Diktatur, bei der mit Löffeln auf leere Schüsseln geschlagen wird.
Im Laufe des Nachmittags wurden die Auseinandersetzungen immer heftiger und breiteten sich auf andere Städte des Landes aus. Studierende verschiedener Universitäten begannen, über Twitcam die Gewalttätigkeit der Polizei gegenüber den DemonstrantInnen öffentlich zu machen, die in die universitären Räume eingedrungen war.
Gegen 19 Uhr versuchten an die hundert StudentInnen, in die Büroräume von Chilevisión einzudringen. Präsident Piñera hatte diesen TV-Kanal vor kurzem um 155 Mio. US-Dollar an den US-Riesen Time Warner verkauft.
Am Abend breitete sich in verschiedenen Vierteln von Santiago der scheppernde Lärm der Cacerolazos aus. In der Nacht ging eine Filiale der Supermarktkette La Polar in Flammen auf; sie ist in einen Finanzskandal verwickelt, der etwa eine Million Menschen geschädigt hat. Die Bilanz des Protesttages: 800 Verhaftete und 90 verletzte Polizisten. So wie der Nahe Osten seinen „Arabischen Frühling“ erlebte, so hatte nun Chile seinen eigenen „Winter“. (In Chile sind die Monate Juni bis September die Wintermonate; Anm.d.Ü.)
Am Tag nach der Großdemonstration kam es zu ersten internationalen Reaktionen. Amnesty International forderte die Regierung auf, den unverhältnismäßigen Gewalteinsatz der Polizei untersuchen zu lassen und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu respektieren. International bekannte Intellektuelle, angeführt von Noam Chomsky, sendeten an die widerständischen StudentInnen Unterstützungserklärungen, und viele Menschen, von der Republik Kongo bis Großbritannien, bekundeten über die sozialen Netzwerke ihre Solidarität.
Der Aufstand der Studierenden Chiles entwickelt sich in der Folge zu einem Phänomen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die geringe Glaubwürdigkeit der offiziellen Politik und die starke Kritik an der staatlichen Energiepolitik, die sich zum Beispiel in Protesten gegen den Bau von fünf Staudämmen in Patagonien geäußert hatte, machten es möglich, dass die Jugendlichen die Straßen erobern und die Unterstützung eines großen Teils der Gesellschaft gewinnen konnten.
Weltmeister bei Studiengebühren
Nach Untersuchungen von OECD und UNICEF ist Chile das Land mit den höchsten Studiengebühren weltweit. Ein Medizinstudium kann bis zu 800 US-Dollar monatlich kosten. Durch die neoliberalen Reformen zur Zeit der Militärdiktatur wurde die Bildung zu einer Geschäftemacherei.
Vor dem Militärputsch von 1973 waren 80% der Bildungseinrichtungen öffentlich – heute sind es nur mehr 25%.
Junge AkademikerInnen starten mit einer Schuldenlast ins Berufsleben, die sie oft erst binnen 15 oder 20 Jahren abtragen können.
red
Camilo Ballesteros, Sprecher der Confech von Santiago, erklärt: „Besonders Sektoren der Mittelklasse identifizierten sich mit unserem Aufruf. Viele von ihnen haben am eigenen Leib das Drama erlebt, bei zwei eigenen Kindern auszuwählen, welches nun studieren kann, denn für beide reicht das Geld nicht aus.“
Die Chronologie der Proteste begann am 12. März, als die Confech eine Erklärung wegen Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Stipendien veröffentlichte. Zwei Monate später, am 12. Mai, rief sie zu einer ersten Demonstration unter dem Motto „Die Rückeroberung der öffentlichen Bildung“ auf und unterbreitete ihre Forderungen dem Erziehungsminister Joaquín Lavín von der Rechtspartei UDI, einem aktiven Mitglied des Opus Dei. In deren Mittelpunkt steht eine „egalitäre, öffentliche und kostenlose Bildung“, die in der Verfassung als soziales Recht festgeschrieben ist. Die Forderungen gewinnen immer mehr Zustimmung in einem Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Lateinamerikas (ca. 15.000 Dollar im Jahr) und gleichzeitig einer der weltweit ungerechtesten Einkommensverteilungen.
Pinochets Vermächtnis: In den 1970er Jahren – vor dem Putsch gegen Allende –, als das Pro-Kopf-Einkommen sieben Mal geringer war als heute, musste man für den öffentlichen Unterricht keinerlei Schul- oder Studiengebühren zahlen, erklärt Sergio Bitar, Erziehungsminister in der Regierung von Ricardo Lagos.
Die Geschichte dieser fundamentalen Veränderung begann genau einen Tag vor der Übergabe der Regierungsgewalt von Diktator Augusto Pinochet an den Chistdemokraten Patricio Aylwin am 10. März 1990. An diesem Tag verabschiedete die Militärregierung das Bundesunterrichtsgesetz, worin das Konzept des Profits in der Bildung festgeschrieben wird, während die Aufgabe der Aufrechterhaltung des Unterrichts an die Gemeinden übertragen wurde. Das war der Ursprung allen Übels.
Hernan Büchi (l.) – von 1985 bis 1989 Finanzminster in Pinochets (re.) Junta – betätigte sich danach als Präsident der Entwicklungsuniversität. Heute ist er u.a. für chilenische Bergbauunternehmen als Verwaltungsrat tätig.
Schon nach wenigen Jahren konnten nur die reichsten Kommunen in den Schulen ein Mindestmaß an Qualität garantieren, während die soziale Segmentierung und die Ungleichheit zunahmen. Diese Situation hat zu einer Abwanderung von SchülerInnen aus den kommunalen öffentlichen Schulen in die subventionierten privaten Bildungseinrichtungen geführt. Damit setzte sich die neoliberale Logik auch im Unterrichtswesen völlig durch. Einer der Forderungen der Studierenden ist die Rückkehr der öffentlichen Schulen zum früheren Status Quo.
Das von der Diktatur vererbte Problem betrifft jedoch nicht nur die Schulbildung. An den Universitäten ist der Konflikt sogar noch größer. Vor 1981 gab es in Chile nur acht öffentliche Universitäten, doch mit einem Dekret der Militärregierung wurden Privatuniversitäten geschaffen. Im März 1990, als die Militärdiktatur abtrat, hatte der Oberste Bildungsrat den privaten Universitäten wirtschaftliche und administrative Autonomie gewährt und ihnen eine indirekte staatliche Subvention zugeschrieben.
Mario Weisbluth, Sprecher der NGO „Erziehung 2020“, einer Bürgerrechtsbewegung, die die Unterrichtsqualität in Chile verbessern will, fasst zusammen: „Obwohl das ‚Gesetz der Freiheit des Unterrichts‘ die Universitäten ganz klar als gemeinnützige Körperschaften definiert, gibt es heute viele Investoren, die diesen Bereich als ein millionenschweres Geschäft betrachten. Das chilenische Modell ermöglicht es, mit Hilfe öffentlicher Subventionen Profite zu erzielen und das Konzept des freien Unternehmertums über das Recht auf Bildung zu stellen.“
Das Fehlen einer gesetzlichen Regulierung ermöglicht es, dass die Gewinne an die Immobilienfirmen fließen, in deren Gebäuden die Universitätseinrichtungen untergebracht sind. Doch viele dieser Universitäten verbergen noch ein zweites Geschäft: das ideologische. Organisationen wie Opus Dei oder Die Legionäre Christi unterhalten eigene Hochschulen, die nach dem von Pinochet gepushten neoliberalen Modell ausgerichtet sind. Die „Entwicklungsuniversität“, die einer der gegenwärtigen Regierungsparteien, der UDI, nahe steht, hatte entsprechende Präsidenten: Hernan Büchi, Finanzminister unter Pinochet, und Joaquín Lavín, Erziehungsminister unter Piñeira, bis er vor kurzem unter dem Druck der Unruhen zurücktreten musste.
Die Organisation für Zusammenarbeit und Wirtschaftliche Entwicklung, OECD, veröffentlichte Daten, wonach die höhere Schulbildung in Chile mit jährlichen Kosten von durchschnittlich 3.400 Dollar die teuerste der ganzen Welt ist, noch vor den USA, Großbritannien, Australien und Japan.
Doch die hohen Kosten betreffen nicht nur Privatuniversitäten. Auch die öffentlichen Einrichtungen haben im letzten Jahrzehnt die Studiengebühren bedeutend angehoben. Es besteht wohl eine Möglichkeit von Stipendien, doch wird dadurch die Kreditwürdigkeit der StudienabgängerInnen beeinträchtigt. Wenn man hingegen kein Stipendium hat, erhält man einen Kredit mit staatlicher Bürgschaft, der nichts anderes ist als ein Bankkredit mit einem Zinssatz von 5,6%. Studieren ist in also in Chile heute genau so teuer wie ein Kredit zum Bau eines Eigenheims. Dieser Sachverhalt ist der Protestbewegung völlig klar.
Die Protestmärsche werden immer bunter und spielerischer. Es gibt – gespielte – kollektive Freitode, Marathonläufe um den Regierungssitz und die Präsentation eines Liedes namens „Thriller“, zu dem hunderte Studierende im Zentrum von Santiago tanzen. Oder das öffentliche Massen-Küssen als Plädoyer für eine neue Bildungspolitik.
Der Druck auf den Präsidenten ist so stark, dass Piñeira, einer der reichsten Unternehmer des Landes, schließlich in die Aufnahme von Gesprächen einwilligte. Er erklärte daraufhin, man sei in neun von zwölf Punkten zu einer Übereinstimmung gelangt. Was die Protestbewegung sofort via Twitter in Abrede stellte – und für den 13. September (kurz nach unserem Redaktionsschluss) zu einem Generalstreik aufrief.
Übersetzung aus dem Spanischen von Werner Hörtner.
Claudio Pizarro studierte Journalismus an der Katholischen Universität in Valparaiso. Mitarbeiter verschiedener chilenischer und ausländischer Medien. Leiter des Chronik-Ressorts der Wochenzeitschrift „The Clinic“ (www.theclinic.cl).
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