Wenn über Chireka frühmorgens die Sonne aufgeht, macht sich Alice Chikoto zusammen mit ihrer Familie auf den Weg in die Berge. Zehn Kilometer bis in die Murembe-Hügel legt die 64-jährige Bäuerin mit ihren vier Kindern und acht Enkeln zurück, bevor sie findet, was sie sucht: Hacha-Beeren, eine wilde Frucht, die eigentlich nur Esel fressen. Die Beere wird zerstampft und mit Wasser zu einem Brei angerührt. Das gibt es dann für die Familie zu essen. Sonst nichts.
„Wir müssen frühmorgens losgehen, sonst holen andere Leute die Beeren“, berichtete die Bäuerin dem UN-Sonderbeauftragten für humanitäre Angelegenheiten im südlichen Afrika, James Morris, als dieser Anfang September die simbabwische Hungerprovinz Mashonaland Central bereiste. Geld für normales Essen hat die Familie Chikoto nicht. Eigentlich arbeiten die Eltern in einer staatlichen Ziegelei. „Aber jetzt ist es zwei Monate her, seit wir für 15 Tage Arbeit 1500 Dollar bekamen“, sagt die Frau. 1500 simbabwische Dollar sind etwa 28 Euro. „Die Arbeit ist zu hart und wir haben morgens und nachmittags nichts zu essen. Nur Hacha, und gekochte Manyanya-Wurzeln für die Kinder.“
Sechs Millionen Menschen – die Hälfte der Bevölkerung – sind in Simbabwe nach UN-Schätzung von Hunger bedroht. Die Maisernte – Mais ist das Grundnahrungsmittel im südlichen Afrika – ist in diesem Jahr um zwei Drittel gefallen, auf knappe 400.000 Tonnen. 1,5 Millionen Tonnen fehlen. Es ist das schlimmste Jahr seit der verheerenden Hungersnot von 1947, als Tausende starben. Wie viele werden diesmal sterben?
Simbabwe ist ein Land im Chaos. Die international vielbeachtete Kampagne gegen die etwa 4.500 weißen Farmer, die von Präsident Robert Mugabe als Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus dargestellt und von seinen Freunden weltweit als solche beklatscht wird, macht davon nur einen kleinen Teil aus. Dass fast alle kommerziellen Farmen des Landes derzeit vom Staat enteignet werden, trifft nicht nur die wenigen tausend weißen Besitzer, sondern vor allem die 1,5 Millionen Menschen, die auf den Farmen leben und arbeiten. Wenn die bisherigen Besitzer von Mugabes Milizen vertrieben werden, werden die Farmarbeiter und ihre Familien vertrieben und irren als Flüchtlinge umher. Viele von ihnen sind EinwandererInnen aus Malawi und Mosambik und haben in Mugabes „neuem Simbabwe“ nichts zu suchen. Sie landen mittellos und hungernd auf der Straße.
Dort treffen sie auf den Gegenstrom von Tausenden Kleinbauern und -bäuerinnen, die angelockt von Mugabes Versprechen in das enteignete Land ziehen, um dort, wie sie aufgrund der Versprechungen der Regierung hoffen, so reich zu werden wie ihre weißen Vorgänger. Sie sehen sich zumeist bitter getäuscht. Die mechanisierte, kapitalintensive Landwirtschaft der kommerziellen Farmen können sie nicht betreiben, wenn alle, die wissen, wie der Betrieb funktioniert, vorher verjagt worden sind.
Die Kleinbauern und -bäuerinnen, von der Regierungspartei angekarrt, lassen sich in den Ruinen der Farmen nieder und betreiben weiter Subsistenzwirtschaft – wenn sie nicht sowieso das Land zugunsten der Oberschicht räumen müssen, der Elite aus Militärs und Parteiführern, die sich die besten Farmen ohne jede rechtliche Grundlage und ohne jede moralische Rechtfertigung unter den Nagel gerissen hat.
Staatliche Hilfe, und sei es nur Saatgut, kriegen die auf die enteigneten Farmen gezogenen Bäuerinnen und Bauern sowieso nicht. Der größte Hohn wurde erst Anfang September bekannt: Die Regierung sagte, die neuen EigentümerInnen müssten die Regierung für den Wert der ihnen überlassenen Immobilien entschädigen. Schließlich müsse man ja die AlteigentümerInnen auszahlen, damit die Enteignung rechtens aussieht – auch wenn jeder weiß, dass Mugabe nicht die geringste Absicht hat, den „Kolonisatoren“ auch nur einen Cent für ihr Land zu geben.
Was Mugabe Landreform nennt, ähnelt der chinesischen Kulturrevolution und wird in Afrika mit den Terrorregimen Idi Amins (Uganda) und Jean-Bedel Bokassas (Zentralafrikanische Republik) verglichen. Die Gesellschaft wird chaotisiert; Eigentumsrechte zählen nichts mehr; von produktiver Landwirtschaft ist keine Rede. Kein Wunder, dass die im ganzen südlichen Afrika herrschende Dürre in Simbabwe noch viel verheerendere Auswirkungen hat als in den Nachbarländern. Die Hälfte der Bevölkerung ist von Hunger bedroht – das schafft nicht einmal Sambia, wo die Landbevölkerung viel ärmer ist als in Simbabwe. Während Mugabe von Dürre redet und die Hungersnot in seinem Land auf globale Klimaveränderungen zurückführt, koexistieren volle Staudämme und brachliegende Bewässerungssysteme mit ausgetrockneten Feldern. Wegen der völligen Rechtsunsicherheit ist dort eine rechtzeitige Aussaat bis November nicht gewährleistet und daher die nächste Hungersnot 2003 bereits vorprogrammiert, während die von diesem Jahr erst so richtig zu greifen beginnt.
Der Regierung ist das offenbar egal. Trotz der schreienden Lebensmittelknappheit sind private Lebensmittelimporte nach Simbabwe verboten. Die staatliche Getreidebehörde GMB (Grain Marketing Board) hat das Monopol. Sie will dieses Jahr 400.000 Tonnen Lebensmittel in Südafrika kaufen, während die UNO eine weitere halbe Million schenken will – sofern sie es nicht einfach der Regierung überreichen muss, sondern direkt den Bedürftigen geben kann. Das staatliche Monopol ermöglicht die politische Kontrolle der Verfügbarkeit von Nahrung. Was von staatlicher Seite ins Land kommt, wird von staatlicher Seite nach staatlichen Kriterien verteilt. „Keine Hungersnot in der Geschichte war nicht von Menschen gemacht“, berichtet ein Farmer. „In unserem Fall planen die Leute, die den Staatsapparat kontrollieren, diejenigen als erste verhungern zu lassen, die im März (bei der Präsidentschaftswahl, Anm.) gegen sie stimmten.“
Als Oppositionelle vor kurzem 29 Tonnen Mais aus Südafrika einkauften, wurde das Getreide an der Grenze beschlagnahmt. Dass die Kerngebiete der Opposition systematisch vernachlässigt werden und dass Empfänger sich mit einer Mitgliedskarte der Regierungspartei ausweisen müssen, um Lebensmittel zu bekommen, wird immer wieder berichtet. Die künstliche Knappheit lässt Grundnahrungsmittelpreise auf dem Schwarzmarkt auf das Doppelte und Dreifache der ohnehin hohen staatlichen Preise ansteigen. John Prendergast von der US-Expertengruppe „International Crisis Group“ berichtete im August nach einer Reise durch Simbabwe: „Das System wird von höchsten Parteioffiziellen und Militärs kontrolliert, von oben bis hinunter zu den lokalen Kaufleuten in den Dörfern. Wenn Leute an Hunger oder unterernährungsbedingter Krankheit sterben, liegt das an dieser politischen Kontrolle und Korruption.“
Die SimbabwerInnen versuchen nach Kräften, damit zurechtzukommen. Solange sie es sich leisten können, kaufen sie Nahrungsmittel, wie teuer sie auch sein mögen. Da werden eben andere Ausgaben zurückgestellt: Man nimmt die Kinder aus der Schule, man kauft keine Medikamente mehr. Wenn nichts mehr geht, kauft man nichts mehr ein und geht Beeren und Wurzeln suchen. Schon werden aus Simbabwe, vor wenigen Jahren noch eines der reichsten Länder Afrikas, Szenen gemeldet, wie man sie eher aus Angola und Kongo kennt. Wie in Angola ziehen obdachlose Hungernde, Opfer von Vertreibungen und Gewalt auf dem Land, an die Ränder der Städte, wo sie hoffen, irgendwie zu überleben. Wie im Osten Kongos verlassen DorfbewohnerInnen, die noch die Kraft dazu haben, ihre Felder mangels Saatgut und gehen in informelle Minen, wo sie unter prekären Bedindungen im Schlamm nach Goldstaub suchen.
Oppositionsführer Morgan Tsvangirai – der im November erneut wegen „Hochverrats“ vor Gericht erscheinen soll und sich daher zurückhält – ist sich sicher: Innerhalb des nächsten Jahres muss Mugabe stürzen, sonst wird die Gesellschaft zu zerstört sein, um noch die Kraft zum Widerstand zu finden. Wenig spricht derzeit dafür, dass Mugabes Tage tatsächlich gezählt sind. Wie viele afrikanische Despoten vor ihm, zerstört er sein Land, um sich und seine Freunde zu erhalten. Und wie viele afrikanische Despoten vor ihm, weiß er sich vor wirksamer internationaler Kritik sicher. Afrika ist nicht wichtig genug, dass sich die Außenwelt seinen verbrecherischen Regierungen in den Weg stellt.