Wie die Korruption Brasilien verändert, und was der aktuelle Anti-Korruptionskampf der Justiz dazu beiträgt. Andreas Behn berichtet aus Rio de Janeiro.
In Brasilien gerät das politische System aus den Fugen. Fast die gesamte politische Klasse windet sich in einem Strudel von Korruptionsvorwürfen, und die demokratischen Institutionen stehen unter Druck. Im Schatten des Korruptionsskandals vollzieht sich ein politischer Machtwechsel, der Brasilien teuer zu stehen kommen könnte. Teurer als all die veruntreuten Milliarden: Die aufstrebende Regionalmacht, die lange für ambitionierte Sozialpolitik stand, entwickelt sich zu einem markthörigen Land zurück, in dem Haushaltslöcher mit Privatisierungen „bekämpft“ werden und wieder mehr Menschen hungern müssen.
Die jüngste Klage gegen den Präsidenten des Landes und einige seiner wichtigsten Minister liest sich wie Fiktion: Michel Temer von der PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) sei Kopf einer kriminellen Vereinigung, die über Jahre hinweg systematisch politische Machtpositionen für illegale Geschäfte nutzte und Millionen an Bestechungsgeldern kassierte, erklärte die Generalstaatsanwaltschaft im September. Das das Parlament Temers Immunität aufheben wird, ist jedoch zu bezweifeln. Weit über die Hälfte der Abgeordneten hat selbst Korruptionsermittlungen am Hals. Bereits im August wurde im Parlament eine erste Prozesseröffnung gegen Temer abgelehnt – damals wurde ihm Behinderung der Justiz vorgeworfen, nachdem er in einem geheimen Audio-Mitschnitt Schweigegeldzahlung an überführte Korrupte gutgeheißen hatte.
Seit über drei Jahren ermitteln Staatsanwälte und UntersuchungsrichterInnen unterstützt von der Bundespolizei im Rahmen der Operation „Lava Jato“ – auf Deutsch „Autowäsche“ – gegen korrupte Machenschaften. Lautstark unterstützt wird die Operation von den Massenmedien und oft auch von den PolitikerInnen, die in Konkurrenz zu den Verdächtigten stehen.
Auch das einstige Machtzentrum, die Arbeiterpartei (PT), die bis zur umstrittenen Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff Mitte 2016 das Land regierte, wurde von der obersten Verfolgungsbehörde als kriminelle Vereinigung angeklagt. Ebenso wird gegen einige Minister und ehemalige Präsidentschaftskandidaten der rechten Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) ermittelt.
Sérgio Moro verurteilte den Ex-Präsidenten Lula da Silva in erster Instanz zu einer langen Haftstrafe.
Firmen haben zentrale Rolle. Mittlerweile sind zahlreiche einst ranghohe PolitikerInnen und UnternehmensführerInnen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die Konstante in dem weitverzweigten und facettenreichen Korruptionsschema: Unternehmen zahlen Schmiergeld für politische Gefälligkeiten oder lukrative Aufträge von staatlichen Unternehmen.
Trotz der aufsehenerregenden Korruptionsermittlungen hat kaum jemand in Brasilien das Gefühl, dass nun endlich mit einem großen Missstand aufgeräumt wird. Das liegt nicht nur daran, dass die juristischen Mühlen langsam mahlen. Viele JuristInnen monieren auch die Methoden, mit denen im Rahmen der Operation Lava Jato vorgegangen wird. Deren wichtigster Trumpf sind KronzeugInnenaussagen, die meist nur zustandekommen, weil Verdächtige monatelang in Untersuchungshaft festgehalten werden.
Hinzu kommt die Kritik der politischen Einseitigkeit. Insbesondere nach Rousseffs Wiederwahl konzentrierte der für Lava Jato zuständige Untersuchungsrichter Sérgio Moro seine Ermittlungen auf die PT und dessen Ikone Luiz Inácio Lula da Silva. Moro, der sich gerne im Kreis von PSDB-PolitikerInnen zeigt, ging sogar soweit, einen illegalen Telefonmitschnitt zwischen Präsidentin Rousseff und ihrem Vorgänger Lula wenige Stunden nach Aufnahme der Presse zuzuspielen, um damit vermeintliche korrupte Absprachen nachzuweisen.
Der Rechtswissenschafter Pedro Serrano von der Katholischen Universität São Paulo warnt vor politischem Missbrauch: „Der Kampf gegen Korruption ist wichtig. Aber die politische Instrumentalisierung der Ermittlungen ist unangemessen und gefährdet die Legitimität des ganzen Prozesses.“
Gefahr für Demokratie. Die Justiz, die angesichts der korrupten Tendenzen in Exekutive und Legislative gerne zum letzten Bollwerk des Rechtsstaates erklärt wird, ist also auch zu hinterfragen. Zumal diverse RichterInnen inzwischen selbst ins Fadenkreuz der Lava Jato-ErmittlerInnen gerückt sind.
Die Politik als gesamtes wird, so befürchten BeobachterInnen, durch die aktuelle Situation von der Bevölkerung immer mehr geächtet. Das Vorgehen in den Korruptionsermittlungen verstört die Menschen, etwa wenn Verdächtigte von uniformierten und bewaffneten BeamtInnen vor laufenden Kameras brutal abgeführt werden. PolitikerInnen werden unter Generalverdacht gestellt, begleitet von einer medialen Hatz.
Da ist es nicht mehr weit zum Ruf nach einem „starken Mann“, einem Populisten oder dem Militär. Der rechtsradikale Ex-Militär Jair Bolsonaro, auch „Trump“ Brasiliens genannt, wird schon als ein Favorit für die Präsidentschaftswahl 2018 gehandelt. Er gilt als homophob, setzt sich für unbeschränkten Waffenbesitz ein und wirft China vor, Brasilien zu besetzen. „Die Korruption hat Brasilien vom Kurs abgebracht. Es ist höchste Zeit, etwas zu tun“, sagt der frühere Fallschirmspringer schon in Wahlkampfmanier.
Die PT hat offensichtlich in ihren fast 14 Regierungsjahren bei den korrupten Machenschaften mitgemischt. Und: Jene Partei, die einst der große Hoffnungsträger der brasilianischen Linken war, erachtet keinerlei Selbstkritik für notwendig.
Kampf im Vorfeld der Wahlen. Der Korruptionsskandal und das Vorgehen der Justiz hat jedenfalls die politische Landschaft in Brasilien verändert: Zuerst führte die von Untersuchungsrichter Moro unterstützte Stimmungsmache gegen Lula und Rousseff zu Massendemonstrationen und zum Sturz der Regierung.
Dieser Machtwechsel war zugleich ein radikaler Politikwechsel. Die neue Regierung ohne Wählermandat setzte in Windeseile eine neoliberale Spar- und Privatisierungspolitik um, die zuvor viermal hintereinander an den Urnen eindeutig abgelehnt worden war.
Obwohl jetzt auch diese Regierung von Korruptionsermittlungen bedrängt wird, präsentiert sie ihre Rückkehr zum Konservatismus vergangener Tage als natürliche und richtige Konsequenz der Aufarbeitung von Korruption.
Dass die Menschen Temer & Co. aber nicht mehr glauben, zeigen Wahlumfragen, die Lula als Favoriten für die Wahl 2018 sehen.
Moro verurteilte Lula unter fadenscheinigen Argumenten im Juli zu neun Jahren Haft. Eine Verurteilung in zweiter Instanz würde ihm die Kandidatur verbieten. PT-PolitikerInnen kritisieren, dass die Justiz damit entscheidend Einfluss auf Brasiliens politische Zukunft nehmen könnte.
Andreas Behn, Journalist und Soziologe, lebt seit über zehn Jahren in Rio de Janeiro und berichtet seit 2012 für verschiedene Medien aus der Region.
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