Ein Land im Ausverkauf

Von Knut Henkel · · 2008/09

Die Entscheidung für Alan García oder Ollanta Humala war für viele Menschen in Peru eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Der Gewinner García, sozialdemokratische Präsident der 1980er Jahre, agiert extrem neoliberal. Nach eineinhalb Jahren Amtszeit wächst die Unzufriedenheit der Bevölkerung.

Flor de María streicht eine Haarsträhne aus der Stirn und näht mit schnellen Stichen ein letztes Stück Stoff an die bunte Kinderjacke. Dann schneidet sie den Faden ab, lässt die Nadel auf den großen Küchentisch fallen, der den Wohnraum des Holzhauses dominiert, und legt die Jacke beiseite. Jeden Tag sitzt die 15-jährige mit ihren beiden jüngeren Schwestern, der elfjährigen Rosa Angelica und der neunjährigen Daisy Luismila, am Küchentisch in der geräumigen Holzhütte und bestickt Chompas, bunte Kinderpullover und -jacken. „Das machen viele im Viertel so“, erklärt Flor de María und zeigt eines der Oberteile, das sie gestern fertig bestickt hat. Zwei Soles – umgerechnet fünfzig Euro-Cents – erhalten die Mädchen für die kleinteilige und langwierige Arbeit. „Ohne dieses Geld kommen wir nicht über die Runden“, erklärt Percy Vargas Gómez. Er arbeitet als Wachmann und seine Frau als Haushaltsangestellte bei einer Mittelklassenfamilie in Miraflores.
Miraflores, das ist Limas mondänes Großstadtviertel und etwas anderes als Villa San Luís. Dort, zwischen den sandigen Hügeln, die Lima umgeben, siedeln sich diejenigen an, die aus anderen Landesteilen zuziehen. Einige Hundert kommen jeden Tag noch dazu. Vater Vargas Gómez kam vor rund fünfzehn Jahren, als in seiner Heimatstadt Ayacucho der Krieg zwischen den maoistischen Rebellen des Leuchtenden Pfads und der Regierung tobte. „In Ayacucho gab es keine Perspektiven, also ging ich nach Lima“, erklärt der freundliche Mann. „Doch auch hier ist es alles andere als leicht, Fuß zu fassen“, sagt Percy Vargas und deutet auf die schäbige Holzhütte, in der er mit seiner Familie lebt. Obwohl Percy und auch seine Frau Nancy und die drei Mädchen arbeiten, müssen sie jeden Sol umdrehen. „Vor allem die Lebensmittel werden immer teurer. Viele Leute haben Angst, dass die Preise wieder galoppieren wie damals, als Alan García zum ersten Mal im Präsidentenpalast saß.“

An die Hyperinflation und das wirtschaftliche Chaos Ende der 1980er Jahre erinnern sich noch viele, vor allem die Leute in den Armenvierteln Limas. Nahezu jede Preiserhöhung macht sich bei ihnen direkt am Mittagstisch bemerkbar. Dabei boomt Perus Wirtschaft seit Jahren. Hohe Wachstumsraten von vier und mehr Prozent hatte schon Garcías Vorgänger Alejandro Toledo vorzuweisen, wofür vor allem die Nachfrage und die hohen Preise für Gold, Kupfer, Blei und Co. verantwortlich sind. Und der Bergbauboom hat noch zugelegt. So wuchs Perus Wirtschaft 2007 im Sog der Exporte von Edelmetallen und Mineralien um ganze neun Prozent.
Doch in Stadtvierteln wie Villa San Luís kommt davon kaum etwas an. „Es fehlt an Arbeit, sonst müssten meine Kinder doch nicht Kinderkleidung besticken und meine Frau außer Haus arbeiten“, sagt Percy Vargas resigniert. Rund 900 Soles, umgerechnet 225 Euro, verdienen die beiden Erwachsenen im Monat, doch das Geld reicht kaum für das Lebensnotwendigste. „Allein für die Lebensmittel geben wir tagtäglich etwa 30 Soles aus, da bleibt kaum etwas übrig“ erklärt der Wachmann, der knapp den Mindestlohn von 520 Soles verdient. Niedriglöhne, die auch oft unter dem offiziellen Mindestlohn liegen, sind normal in Lima, wo an nahezu jeder Ecke Straßenhändler stehen und Getränke, Essen, Kinderspielzeug oder Handyzubehör feilbieten. Für seine drei Töchter wünscht sich Percy Vargas eine bessere Zukunft, und deshalb schickt er sie zur Schule. Die älteste träumt von einem Job als Hotelfachfrau und lernt fleißig Englisch.
Doch auch die Bildung ist keine Garantie, um aus den Armenvierteln herauszukommen, denn in den Schulen Perus wird zuwenig und oft das Falsche gelernt, wie Lateinamerikas Pisa-Test bestätigte. Dort landete Peru auf dem zweitletzten Platz vor Haiti.
Wie schlecht es um die Bildung steht, zeigt ein Test, den die Regierung im vergangenen März durchführen ließ. Die Prüfung bestanden von landesweit 170.000 LehrerInnen gerade einmal 3.000 – davon nur sehr wenige mit Auszeichnung.

Eine deftige Ohrfeige für die peruanische Bildungspolitik, denn die setzt, entgegen allen Wahlkampfversprechen von Alan García, aufs Sparen. „Der falsche Weg“, erklärt Ada Mejia von Via Libre, einer der großen AIDS-Stiftungen in Peru. Die ist für Prävention und Aufklärung auf ein gewisses Bildungsniveau angewiesen und obendrein auch auf das Interesse und Entgegenkommen der Lehrkräfte. „Beides ist jedoch nur rudimentär vorhanden, dabei ist Bildung die einzige Chance, um endlich weiterzukommen“, ärgert sich die Soziologin. Im Präsidentenpalast an der Plaza Mayor in Limas Altstadt scheint diese Tatsache nur im Wahlkampf zu interessieren. Die Noten, die viele PeruanerInnen ihrem Präsidenten nach gut eineinhalb Jahren Amtszeit geben, fallen entsprechend schlecht aus.
„Wo sind denn die Arbeitsplätze, die uns versprochen wurden“, ätzt Taxifahrer Angel Pueda. Er hat Ökonomie studiert, mehrere Jahre in einer Bank gearbeitet und lenkt, seit er entlassen wurde, nun tagtäglich einen klapprigen Kleinwagen durch den dichten Verkehr von Lima. Er traut dem glänzenden Populisten García nicht und ist enttäuscht von der peruanischen Demokratie. „Für die Präsidentschaftswahlen 2011 läuft bereits eine Kampagne von Alberto Fujimori, und beim letzten Wahlgang hatten wir doch auch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Alan García, der das Land schon einmal zugrunde richtete und den Diktator Fujimori erst ermöglichte, und Ollanta Humala sind wahrlich tolle Optionen“, so der Taxifahrer sarkastisch.

Wenig hält der Ökonom im Taxi von Garcías Wirtschaftspolitik. „Señor Presidente will seine erste Amtsperiode vergessen machen und versucht deshalb, dem Kapital alles recht zu machen“, kritisiert der 38-Jährige. Ein unrühmliches Beispiel für die schwache Administration Garcías ist die Nothilfe im Anschluss an das Erdbeben vom August 2007 im Großraum der Hafenstadt Pisco. Die kam erst mit erheblicher Verspätung ins Rollen, und deshalb organisierten internationale Entwicklungsorganisationen in Lima auf eigene Faust Konvois mit Decken, Zelten und Nahrungsmitteln. „Wir haben Fertighäuser in Chincha, eine Fahrtstunde südlich von Lima, mit den Gemeinden aufgebaut. Hilfe von Seiten der Regierung ist da kaum angekommen“, erklärt Monica Carillo, die Präsidentin des Vereins Lundú, einer Selbsthilfeorganisation der farbigen Minderheit in Peru.
Dabei fehlt es der Regierung nicht an Ressourcen, aber das Personal in den Ministerien ist mit Koordination und Planung schlicht überfordert. Für die Regierung scheint allein die Wirtschaft Priorität zu haben. Dabei wird in der Regel über die Köpfe der regionalen Bevölkerung entschieden, so María Elena Foronda von der Nichtregierungsorganisation Naturaleza. Diese kämpft für nachhaltiges Wirtschaften im wichtigsten Fischereihafen des Landes, in Chimbote: „In Peru wird nicht an morgen gedacht, die Ressourcen werden gnadenlos ausgeplündert“, kritisiert die Umweltaktivistin.

Alan García wirbt unermüdlich für den Investitionsstandort Peru und will vor allem im Bergbau die Abbaukapazitäten ausweiten. Zehn Milliarden US-Dollar sollen in den nächsten Jahren investiert, die Zahl der Minen soll von derzeit 250 auf 500 verdoppelt werden. „Selbst in touristisch wichtigen Regionen des Landes wie in Baños del Inca, nahe der Stadt Cajamarca, wurden Konzessionen vergeben“, kritisiert Julia Cuardos von der Nichtregierungsorganisation (NGO) Cooperación. Diese setzt sich für die Rechte der lokalen Bevölkerung ein und vertritt Gemeinden, die sich gegen die Ansiedlung von Bergbauunternehmen wehren.
Die Zahl solcher Initiativen nimmt landesweit zu; die Regierung geht mit harten Bandagen gegen sie vor. So wurden Ende März Fachleute von NGOs und lokale GemeindevertreterInnen in Piura des Terrorismus angeklagt. Sie hatten die Ansiedlung eines Bergbauprojektes im Norden Perus kritisiert. Dort soll an der Grenze zu Ecuador ein großes Kupferminenprojekt namens Rio Blanco realisiert werden. Das droht, so der Biologe Fidel Torres, das ökologische Gleichgewicht in der Region ins Wanken zu bringen. Doch von derartigen Bedenken halten das zuständige Ministerium und der Präsident, der einst als Linker für gesellschaftliche Umverteilung eintrat, wenig. Umverteilung gehört heute sicherlich nicht mehr zu seinem Vokabular – höchstens zu Wahlzeiten.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und freiberuflicher Journalist mit Schwerpunkt Entwicklungspolitik und lebt in Hamburg.

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