Die so genannte bolivarianische Revolution, die nach dem südamerikanischen Befreiungshelden Simón Bolívar benannte soziale und politische Umgestaltung Venezuelas, wird von den mehrheitlich oppositionellen Medien des Landes mit einem psychologischen Krieg beantwortet. SÜDWIND-Redakteur Werner Hörtner sprach mit dem venezolanischen Soziologen und Schriftsteller Luis Britto García.
Südwind: Was sind Ihrer Meinung nach die tieferen Gründe der sozialen und politischen Auseinandersetzung, die sich gegenwärtig in Venezuela abspielt?
Britto García: Diese Polarisierung hat es in Venezuela immer schon gegeben. Es ist die Konfrontation zwischen einem großen Teil der Bevölkerung, der in Armut lebt, und einer kleinen, geschlossenen Oligarchie, die fast alle Produktionsmittel in ihrem Besitz hat und die sich beharrlich weigert, irgendetwas von ihren Privilegien abzugeben. Diese Situation führte in der jüngsten Zeit mehrfach zu Ausbrüchen, etwa 1989 beim Volksaufstand in den Armenvierteln von Caracas, dessen Niederschlagung über 3.000 Menschen das Leben kostete.
Doch war Venezuela in den letzten Jahrzehnten im lateinamerikanischen Kontext nicht ein vergleichsweise friedliches Land?
Seit 1958 haben sich zwei populistische Parteien, die Christdemokraten und die Sozialdemokraten, an der Macht abgelöst. Diese politische Kontinuität und die Tatsache, dass die herrschenden Parteien einen gewissen Teil der Erdöleinnahmen in den Staatshaushalt investiert haben, führte dazu, den Konflikt zu unterdrücken und zu verdrängen, so als gäbe es ihn gar nicht. Doch in den 1980er Jahren verloren diese Großparteien durch ihre Unfähigkeit, die Wirtschaftskrise zu bewältigen, jegliche Glaubwürdigkeit. Das „bolivarianische Projekt“ ist nun ein Versuch, dem Land die Regierbarkeit wiederzugeben. Doch wie gesagt: Der Konflikt in Venezuela ist schon viel älter als die Regierung Chávez.
Ich habe den Eindruck, dass die Opposition zu Beginn der Regierungszeit von Präsident Chávez ziemlich still und inaktiv war.
Nein, das kann man nicht sagen. Es gab von Anfang an eine vehemente Gegnerschaft gegen ihn. Diese hat sich dann noch verstärkt mit der in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit angenommenen neuen Verfassung. Es wurde darin nämlich u.a. die Möglichkeit der direkten Wiederwahl des Präsidenten eingeführt. Und die Vorstellung von zwei Amtsperioden Chávez, d.h. zwölf Jahre, hat die Opposition um ihr politisches Überleben fürchten lassen. In Venezuela ist nämlich die wirtschaftliche Macht eng mit der politischen Macht verbunden. Ein großer Teil der wirtschaftlichen Elite lebt und verdient nicht durch produktive Aktivitäten, sondern durch Verträge mit dem Staat, z.B. durch Importlizenzen, durch Annoncen in den Medien. Es ist eine parasitäre Oligarchie. Hierin liegt auch der wirkliche Grund für die Auseinandersetzungen der letzten Zeit: der Versuch der Regierung, die ökonomisch dominanten Gruppen von diesen Geldquellen abzuschneiden. Die wirtschaftlich Mächtigen wollen nun die politische Macht wiedererlangen. Kein Wunder, dass einer der Führer der Opposition der Präsident des Unternehmerverbandes ist.
Die venezolanischen Medien, die ja zum Großteil im Dienste der Opposition stehen, veröffentlichen immer wieder unwahre, aggressive, beleidigende Nachrichten über den Präsidenten und die Regierung. Warum unternehmen diese nichts dagegen? Gibt es denn keine rechtlichen Handhabe?
Natürlich gäbe es das. Die Verfassung sagt im Artikel 57, dass die Medien verpflichtet sind, wahre, zutreffende, unparteiische Information zu liefern. Außerdem ist die Anstiftung zu ethnischem und rassistischem Hass verboten. Aber in den oppositionellen Medien werden die Anhänger von Chávez immer als Horden, Meute, Neger usw. dargestellt. Außerdem sind Verleumdung und üble Nachrede auch im normalen Strafrecht strafbare Tatbestände.
Warum werden dann diese Medien nicht geklagt?
In einigen wenigen, extremen Fällen von Verleumdung hat es schon Klagen gegeben, und auch die Verurteilung, eine Entgegnung zu veröffentlichen. Doch dann geht ein großer Aufschrei durch die gesamten oppositionellen Medien. Es ist ein wahrer psychologischer Krieg, der auf dieser Ebene gegen den bolivarianischen Prozess geführt wird.
Luis Britto García, 1940 in Caracas geboren, arbeitete ursprünglich als Rechtsanwalt, widmete sich dann jedoch der Schriftstellerei – Dichtung, Belletristik, humoristische Literatur, Theaterstücke –, gewann zahlreiche literarische Preise und arbeitete bis zu seiner Pensionierung im heurigen Frühjahr als Soziologieprofessor an der Zentraluniversität von Venezuela. Er veröffentlichte ca. 50 Titel, zuletzt ein Buch über die Rolle der Massenmedien im gegenwärtigen Venezuela.