Geschichtenerzählen war in vielen Ländern über Jahrhunderte wichtiger Teil der kulturellen Identität, so auch in Marokko. Der Erzähler Sebastian Buchner schildert seine persönliche Begegnung mit der alten Kunst und die Gründe, warum das Erzählen Zukunft hat.
Sein Nachbar sieht Joha, wie er in seinem Garten verzweifelt etwas sucht. „Joha,“ ruft er ihm zu. „Was sucht du?“ „Meinen Schlafzimmerschlüssel“, kommt die Antwort.„Wo hast du ihn denn verloren?“ „Im Keller!“„Äh … warum suchst du ihn dann hier?“ Joha schaut für einen Moment auf. „Wie soll ich ihn im Dunkeln finden? Das Licht ist besser hier.“
Laut Tradition erzählt man immer mindestens sechs „Joha-Geschichten“. Man erzählt sie im Wechsel, zuerst der eine, dann der andere. Joha, den weisen Narren, kennt man in der ganzen muslimischen Welt unter verschiedenen Namen. In Europa heißt er meistens Mullah Nasruddin. Die Überlieferung ist dem Sufismus zuzuschreiben, den spirituell orientierten islamischen Strömungen, die mit verschiedenen Kunstformen Gott nahe kommen wollen. Die AnhängerInnen des Sufismus – die Sufis – bezeichnen die Geschichten gerne als philosophische Witze. Es gibt Studien über die tiefere Bedeutung der Witze und ihre psychologischen Effekte. Geschichtenerzählen ist ein wichtiges soziales Phänomen, das Vorstellungskraft und Charakter entwickeln soll. Geschichten können komplexe Ideen auf simple Art und Weise wiedergeben.
Aussterbende Kunst? Betrachtet man die Artikel und die Literatur der letzten Jahre zur Tradition des Geschichtenerzählens in verschiedenen Ländern, herrscht ein melancholischer Tenor. Geschichtenerzählen sei dazu verdammt, in den Wirren der Moderne zu verschwinden, lautet die verbreitete These. Selbst eine so liebevoll aufbereitete Dokumentation wie „Al Halqa“ des Berliner Filmemachers Thomas Ladenburger, die sich mit einem der letzten großen Erzähler Marokkos auseinandersetzt, gibt eine skeptische und desillusionierende Prognose ab.
Eine Zeit lang hatte ich mich derselben Melancholie verschrieben: Die Geschichten stammen von der älteren Generation und spiegeln wohl zum Teil auch deren Ängste wieder. Wenn Geschichten wieder lebendig werden sollen, dann muss das über die junge Generation geschehen, die in der Moderne lebt und sie angesichts des breiten medialen Angebots vielleicht nicht so überwältigend findet wie frühere Generationen.
Café als Treffpunkt. Mein letzter Besuch in Marrakesch hat mir gezeigt, dass das Erzählen absolut lebendig ist. Es ist ein Teil des Alltags, ungezwungen und natürlich. Dabei ist vor allem ein Ort zentral: das Café Clock, ein interkulturelles Kaffeehaus in der Kasbah, nahe des Stadtzentrums. Eigentlich ist es eine Zweigstelle eines seit vielen Jahren in Fez etablierten Kaffeehauses, wurde aber mit eigenständigen und innovativen Ideen aufgebaut. In der Küche mischt man marokkanische Menüklassiker mit amerikanischen und europäischen Einflüssen, heuert junges englischsprechendes Personal an und zieht damit eine Mischung aus TouristInnen und lokalen Publikum an. Das Café Clock wird durch seine vielen Events, Musikabende und auch dem „Hikayat“ (arabisch für mündlich vorgetragene Geschichten, Anm.) zu einem wirklichen und lebendigen Treffpunkt der Kulturen.
Das Hikayat ist für mich – und auch für die Leitung des Cafés, wie sie mir erzählt – das Herzstück. Haj, ein versierter Geschichtenerzähler, der früher noch auf dem zentralen Marktplatz von Marrakesch, der Jemaa el Fnaa, erzählt hat, nimmt eine Gruppe von StudentInnen unter seine Fittiche. Sie alle lernen ein Repertoire an Geschichten, auf Englisch und Darija, dem marokkanischen Dialekt. Diese führen sie im Café Clock an den Hikayat-Abenden auf. Ziel ist, das Projekt ständig auszuweiten: Das Café sucht immer nach Leuten, die Ausbildung im Theater- und Schauspielbereich besitzen oder Sprechtraining und Bühnenpräsenz vermitteln können. Die Projekte dienen neben dem Erhalt der Erzähltradition auch der Stärkung von Frauen in der Gemeinschaft und dem sozialen Gefüge Marokkos.
Für ein Projekt, das vor einiger Zeit erfolgreich abgeschlossen wurde, gingen die zwei Erzählerinnen an eine Mädchenschule, übten dort mit den Schülerinnen das Erzählen und ließen sie ihre eigenen Joha-Geschichten erzählen – bloß dass Joha hier ein Mädchen war.
Gegenwart und Zukunft. Die jungen ErzählerInnen stellen für mich eine enorme Inspiration dar. Es ist schön, mit Menschen zu sprechen, die Geschichten ernst nehmen und ein kleines Stück ihrer eigenen Tradition weitertragen wollen. Es sei jedem Besucher und jeder Besucherin von Marrakesch ans Herz gelegt, am Donnerstag das Café Clock zu besuchen und das Hikayat selbst zu erleben.
Vor ein paar Monaten waren Hajs SchülerInnen zum ersten Mal auf der Jemaa el Fnaa und erstmals seit vielen Jahren konnte man auf dem Platz wieder Geschichten hören. Zum allerersten Mal auch aus den Mündern von zwei Frauen, Malika und Sahra. Die beiden sind die ersten Frauen, die in der langen Tradition von Erzählern auf der Jemaa el Fnaa ihre Geschichten preisgegeben haben.
In vielen Reisen nach Marokko habe ich viel übers Geschichtenerzählen und seine Wirkung gelernt. Vor Jahren brachte mich Salmane, ein Literaturstudent in Marrakesch, auf seinem Motorrad zum Bahnhof. In der Nacht zuvor hatte er nur zwei Stunden Schlaf bekommen, was sich mit dem hektischen Verkehr der Stadt nicht so gut vertrug. Er könne kaum die Augen offen halten, sagte mir Salmane während der Fahrt. „Erzähl mir was, damit ich wach bleibe.“ Das erste, was mir in den Sinn kam, waren die Geschichten von Mullah Nasruddin, die ich bei einer Recherche über die Sufis in einer iranischen Tradition gefunden hatte. Ich erzählte brav sechs am Stück, während Autos und Motorräder an uns vorbei durch die Straßen schossen. n
Sebastian Buchner ist freier Fotograf, Autor und Reiseleiter. Er erzählt selbst traditionelle Geschichten aus verschiedenen Kulturen, meist unter dem Namen „Dancing Tales“, gemeinsam mit einer Tänzerin und Musikern.
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