Disneys Traumwelt

Von Wayne Ellwood · · 1999/01

Rund um den Globus verbreitet Walt Disney`s Medienimperium westliches Kulturgut. New Internationalist-Redakteur Wayne Ellwood hat das neueste Aushängeschild des Konzerns in Florida besucht. Und dort einen Einblick in die

Der Zauber beginnt, bevor man es bemerkt. In der überwältigenden High-tech-Szenerie des Orlando Airport kaum aus dem Flugzeug gestiegen, nähert sich einem ein Gefährt im Disney-Stil. Darin gleitet man auf einer Schiene hinüber zum Terminal-Hauptgebäude. Ein Tonband begrüßt mit weicher Stimme die neu angekommenen Gäste in Walt Disney World (WDW).

Von unten schieben sich schimmernde Swimming Pools, wogende Palmen und manikürte Rasenflächen ins Blickfeld. Man hat es ins Märchenland geschafft , in ein geschlossenes und abgeschiedenes Universum, fern aller Sorgen und Nöte des Alltags.

Walt Disney World in Florida ist das Kronjuwel der Walt Disney Company, einem 23 Mrd. US-Dollar schweren Medienkonglomerat, wahrscheinlich derzeit der mächtigste Einzelfaktor für die globale Verbreitung westlichen Kulturguts. In der vernetzten Welt des kommenden Jahrtausends wird die wahre Schubkraft für die Verbreitung des Konsumkapitalismus nicht vom Internationalen Währungsfonds, Texaco oder von Monsanto ausgehen. Sie leitet sich von der Kontrolle über „die Sehnen unserer postmodernen Seele“ – über Film, Fernsehen, Musik, Inhalt und Information – ab.

Es gibt viele mögliche Assoziationen zum Namen Disney: der markengeschützte Schriftzug etwa oder so außergewöhnlich erfolgreiche Filme wie Aladdin und König der Löwen. In erster Linie aber ist die von einem visionären jungen Künstler namens Walt Disney 1923 mit minimalem Budget gegründete Firma heute ein Gigant der internationalen Unterhaltungsindustrie.

Neben den vier verschiedenen Themenparks in Orlando gibt es noch Disneylands in Los Angeles, in der Nähe von Tokio und nördlich von Paris. Zum Konzern gehören eigene Buchverlage, Zeitschriften und Tageszeitungen, Filmproduktions- und Kinoverleihgesellschaften, Kabelfernsehsender, Musikproduktion und Aufnahmestudios, Bühnenshows, Immobiliengesellschaften, Eishockey- und Baseballvereine der jeweiligen US-Topliga, Videoproduktion und -vertrieb, Verkaufsläden, Lizenzgeschäfte, Software-Entwicklung und Online Services.

Seit der Übernahme der American Broadcasting Company (ABC) 1995 für einen Kaufpreis von 19 Mrd. US-$ liegt Disney im Kopf-an-Kopf-Rennen um die Position der weltgrößten Mediengruppe nur mehr um Haaresbreite hinter Time-Warner.

Gleichzeitig tauchte der Begriff „Disneyfizierung“ neu in unserem Sprachgebrauch auf und ist seither zum Synonym für die Tendenz geworden, unsere Welt aus Fleisch und Blut in ein Disneyland-Imitat zu verwandeln – keimfrei, sicher, unterhaltsam und vorhersehbar.

Mit mehr als 27 Millionen Passagieren allein im letzten Jahr zählt Orlando inzwischen zu den größten Flughäfen der Welt. Schätzungsweise die Hälfte davon strömt in die Themenparks, Hotels, Restaurants, Bars und Geschäfte der Disney World. Insgesamt sind es mehr als 30 Millionen BesucherInnen, die der Komplex jährlich anzieht, viele davon kommen aus Übersee.

Spitzenreiter im Vorjahr waren die Briten mit 1,2 Millionen Buchungen oder täglich 10 Jumbo Jets nach Orlando.

Vor vierzig Jahren war dieser Landstrich im Herzen Floridas noch völlig unberührt vom Massentourismus. Orangenhaine, üppige Feuchtgebiete, Palmen und Gemüsefelder prägten die Szenerie. Orlando war damals mit seinen knapp über 20.000 EinwohnerInnen eine gemütliche, verstaubte Kleinstadt, in der im wesentlichen die Zitrusfarmer das Sagen hatten.

Anfang der sechziger Jahre jedoch störte eine eigenartige und verdächtige Unruhe die behäbige Stille. Es verbreitete sich das Gerücht, ein mysteriöser Interessent kaufe verstreute Parzellen westlich und südlich der Stadt auf, zehn Hektar Orangenhain hier, fünfzig Hektar Buschland dort.

Als die Identität des Käufers schließlich bekannt wurde, besaß Disney bereits mehr als 10.000 Hektar. Heute beläuft sich der gesamte Grundbesitz des Konzerns in Zentralflorida auf über 15.000 Hektar.

Die Aussicht auf die Millionen von TouristInnen stimmte die Vertreter des Staates Disney und seinem Vorhaben gegenüber wohlwollend. So wurde der neue Grundbesitzer 1965 mit allen Rechten und Befugnissen einer unabhängigen Gemeindeverwaltung ausgestattet. Schließlich versprach Disney in Zukunft zwei Gemeinden mit jeweils 20.000 EinwohnerInnen zu errichten.

Sein Plan war es, mitten in den Sümpfen von Florida seine technokratische Vision städtischer Glückseligkeit als „Environmental Prototype Community of Tomorrow“ (EPCOT) zu verwirklichen. Die Idee eines Themenparks spielte darin nur eine untergeordnete Rolle.

Die Reedy Creek Improvement Area, so die offizielle Bezeichnung von Disneys Quasi-Regierung, entscheidet heute über ihre eigenen Vorhaben im Straßenbau, bei der Kanalisation und der Wasserversorgung. Darüberhinaus verfügt sie als Behörde über eine eigene Polizei und Feuerwehr sowie eigene Verwaltungsinspektoren.

„Es ist wirklich ein Staat-im-Staat“, bestätigt Ed Erickson, Reporter des Orlando Weekly. Disney profitiere auch finanziell von seinem Gemeindestatus. „Indem der Konzern seinen Steuern über Anleihen reguliert, können Kapitalkosten als örtliche Steuerausgaben abgeschrieben werden“, erklärt er. „Disney kann diese Kosten anschließend direkt von der Einkommenssteuer abziehen, anstatt sie über Abschreibung amortisieren zu müssen. Das ist legal und erspart dem Konzern jährlich Millionen an Steuern.“

Mit dem Auto erreicht man die Walt Disney World (WDW) über die Interstate 4, die Autobahn zwischen Tampa und Orlando. Ursprünglich für maximal 70.000 Fahrzeuge gebaut, wälzen sich heute 160.000 Autos täglich über das Asphaltband. Die zweifelhafte Charta der Bundesregierung von 1965 befreit Disney auch von jeglichen öffentlichen Verkehrsabgaben.

Die Nutzung der Zufahrtsstraßen ist für das Unternehmen kostenlos – oder zumindest beinahe. 1985 nämlich hatten einige regionale Bezirkspolitiker die Nase voll und drohten mit einer Klage. Disney erklärte sich schließlich bereit, einen einmaligen Straßenerhaltungsbeitrag von 14 Mio.US-Dollar, verteilt auf fünf Jahre, zu leisten. Kleingeld für ein Unternehmen dieser Größenordnung, aber offensichtlich genug, um die angedrohte Klage auf Verfassungswidrigkeit des Reedy Creek Agreements abzuwenden.

Im Bundesgesetz von Florida gibt es einen Passus, der es Anwälten untersagt, gegen ehemalige Klienten zu prozessieren. Disney ist daher bemüht, so viele Anwälte wie möglich zu beschäftigen. Viele haben bereits Mickeys plumpe kleine Hand geschüttelt, und so sind in ganz Florida nur mehr einige wenige Rechtsvertreter übrig geblieben, die gegen Disney überhaupt eine Beschwerde vor Gericht einbringen könnten.

Nähert man sich auf dem Highwy der WDW, verdichtet sich der gigantische Schilderwald, der zu Disney’s „Animal Kingdom“, der neuesten Attraktion unter den Parks, führt. Mit einer Fläche von 200 Hektar und Gesamterrichtungskosten von 800 Mio. US-Dollar ist es Disneys erster Vorstoß in die „erstaunliche Wirklichkeit der Natur“ (Werbetext) und wurde im April vorigen Jahres eröffnet. Hauptattraktion ist eine afrikanische Savannenlandschaft, mit aus Afrika importierten Tieren und Pflanzen möglichst getreu nachempfunden.

Rund 1.000 Tiere bevölkern diesen 45 Hektar großen künstlichen Lebensraum, darunter Löwen, Warzenschweine, Giraffen, Kudus, Zebras und Dutzende andere Arten. Vor der Savanne und der Kilimanjaro-Safari warten im Safari Village noch die Disney Outfitters („feine Dinge und dekorative Gegenstände“) und das Island Mercantile („Animal Kingdom Souvenirs, Süßigkeiten u.a.“) auf Kundschaft. Dort befindet sich auch der „Lebensbaum“, eine eindrucksvolle Rekonstruktion eines Baobab aus Stahl und bemaltem Beton – wie sie nur der Phantasie der Disney’schen „Imagineers“, wie Walt persönlich seine ersten Parkdesigner nannte, entsprungen sein kann. Stamm und Wurzeln des fünfzig Meter breiten und vierzehn Stockwerke hohen Kolosses sind über und über mit plastischen Darstellungen von 325 verschiedenen Tieren bedeckt, in seinem Inneren befindet sich ein Kinosaal.

Eine lange Menschenschlange schiebt sich geräuschlos rund um den Baobab bis zum Eingang. Warteschlangen sind ein augenscheinlicher Bestandteil dieser Wunderwelt. Vor jedem Ride oder Film gibt es eine Hinweistafel mit der aktuellen Wartezeit. Selten sind es weniger als dreißig Minuten, häufig bedeutend mehr. Doch die Menschen stehen geduldig an.

Die „Imagineers“ sind ExpertInnen im Kontrollieren der Besucherströme: Die Reihen sind so geschickt geschlängelt, daß für die Wartenden immer nur ein kleiner Teil der Gesamtlänge sichtbar ist; Musik aus unsichtbaren Lautsprechern, Videovorschauen auf das zu erwartende Ereignis oder neue Ankündigungen sorgen ständig für Abwechslung.

Harambe ist die Replik eines ostafrikanischen Fischerdorfes. Die Betonwände der Hütten sehen tatsächlich aus wie getrockneter Lehm. Die Strohdächer wurden aus echtem afrikanischen Gras von afrikanischen Handwerkern gefertigt. Der Grundriß des Dorfes ist – wie könnte es anders sein – muschelförmig. In seinem Zentrum finden sich die üblichen Disney-Ramschläden und Imbißlokale wie Mr. Kamal’s Burger Grill.

Ein paar AfrikanerInnen in Stammestracht stehen für einen Schnappschuß zur Verfügung. Ein diskretes gelb-rotes Schild weist darauf hin, daß es sich um einen Kodak Photo Spot handelt – für den Fall, daß jemand vergessen sollte, hier seine Kamera zu zücken.

Für die anschließende „Safari“ klettert man in einen hochmotorisierten Transporter ohne Seitenwände. Dann schlingert man auf einer zerfurchten Betonbahn kreuz und quer durch die „afrikanische Landschaft“, mit heulendem Motor und aufspritzenden Wasserfontänen.

Buschwerk und Untergrund mußten zuerst eingeebnet werden, ehe diese neue Oberfläche mit Hilfe von importierten Pflanzen, Gestein und Erde entstehen konnte. Die kleineren Baobab-Bäume und die Termitenhügel sehen echt aus, doch auch sie sind aus Beton gegossen.

Der Fahrer hält von Zeit zu Zeit an, um auf einzelne Tiere zu deuten, die die BesucherInnen allesamt stumpf ignorieren. Ein vollbeladener Safariftransporter pro Minute: Welche Auswirkungen der andauernde Lärm und Gestank der röhrenden Fahrzeuge wohl auf die Gesundheit der Tiere hat?

Obwohl sich das Unternehmen Disney rühmt, „dem Naturschutz weltweit verpflichtet zu sein“, werfen die TierschützerInnen dem Animal Kingdom Täuschung und Betrug an den Prinzipien des Naturschutzes vor.

Abel ist „Trail-Führer“ am Pangani Forest Exploration Trail. Der junge Mann aus Botswana ist einer von den fünfzig mit Einjahresverträgen beschäftigten AfrikanerInnen, die dem Animal Kingdom besondere Authentizität verleihen sollen. Es ist sein erster Aufenthalt außerhalb seiner Heimat und er gesteht, daß er gerne nach New York möchte.

3.400 von den insgesamt 50.000 Beschäftigten der Walt Disney World arbeiten im Animal Kingdom. WDW ist in den USA damit zum Unternehmen mit den meisten an einem Standort beschäftigten DienstnehmerInnen geworden.

Alle Jobs werden unter den BewerberInnen nach fixen Auswahlkriterien wie Alter und äußere Erscheinung verteilt.

Hinter dem noch unfertigen Areal der Asian Adventures liegt das Regenwald Café. Drinnen schlängeln sich Eltern und Kinder durch einen Dschungel aus Lianen mit darauf baumelnden Plüschtier-Kreaturen aus dem Regenwald. Laut einem Bediensteten macht das Cafe einen Jahresumsatz von 65 Mio. US-Dollar, pro Kopf wird im Schnitt um 21 Dollar konsumiert.

In den Themenparks von Disney geht es genauso ums Verkaufen wie ums Unterhalten.

Kritische Stimmen behaupten, das von Disney entwickelte Themenpark-Modell hätte seinen ursprünglichen Rahmen gesprengt und diene inzwischen weltweit als Kolporteur von sozialen Beziehungen. Einkaufsstraßen, Restaurantketten wie McDonald’s, die Logomania von Nike und Reebok seien alle von Disneys Konzept des internationalen „Shoppertainment“ als Ersatz für Bürgerrechte beeinflußt.

Einige Meilen ostwärts liegt „Celebration“, die – aus den Mythen der amerikanischen fünfziger Jahre erschaffene – Disney’sche Modellstadt. Die kurze Hauptstraße ist gesäumt von malerischen Geschäftsfassaden im New- England-Stil. Neben der Bäckerei, der Buchhandlung, dem Postamt und dem Gerichtsgebäude steht auch ein Rathaus, obwohl die Stadt gar keine Regierung hat. Die Verwaltung besorgt ein Gemeindeverband. Die Regionalbehörde stellt ihre öffentlichen Dienste zur Verfügung. Und für den Wust an kommunalen Vorschriften zeichnet das Disney Management verantwortlich.

Vergangenen Zeiten nachempfundene Stilrichtungen prägen die Architektur im Zentrum. Aneinandergereihte Stadthausfassaden finden sich hier ebenso wie typisch amerikanische Einfamilienhäuser mit offener Veranda und Mansarde. Überall ist das Lebensgefühl einer streng kontrollierten Gemeinde mit vorfabrizierter Geschichte spürbar, einer Stadt zum Konsumieren.

Die Ironie von Celebration ist es, daß es sich nur wenige Disney-Angestellte leisten können, tatsächlich dort zu wohnen. Selbst die günstigsten Reihenhäuser sind nicht unter 125.000 US-Dollar zu haben.

Billiges Wohnen ist eines der Hauptanliegen in der Gegend rund um Orlando. In den letzten 35 Jahren ist die Einwohnerzahl der Stadt von 20.000 auf knapp eine Million angewachsen. Viele sind dem Ruf von Disney und seiner unzähligen Mitbewerber gefolgt. In und um Orlando wimmelt es nur so von geschmacklosen Möchte-Gern-Disneys, billigen Einkaufszentren und Souvenirläden. Die Hälfte der insgesamt 90.000 Hotelzimmer ist im Besitz von Disney selbst. Wirtschaftlich hat das alles für die Region eine Schwemme an Dienstleistungsjobs mit extrem niedrigem Lohnniveau gebracht. Der Ballungsraum dehnt sich immer weiter aus – auf der Suche nach billigem Bauland an der Peripherie. Öffentliche Verkehrsmittel fehlen weitgehend. Autos werden zur Notwendigkeit, die zurückzulegenden Entfernungen wachsen. Die durchschnittlichen Löhne liegen hier sowohl unter dem Niveau von Florida als auch der USA.

Judith Kovisar ist die örtliche Direktorin von Fanny Mae Partnership, einer großen Wohnbau-Finanzierungsgesellschaft für Bezieher niedriger Einkommen und sicherlich keine Radikale. Doch sie gibt zu bedenken „Disney macht genug Geld, nur wollen sie es nicht an jene verteilen, die es brauchen. Es ist ein koloniale Situation – hier wird investiert, aber ein Großteil des Gewinns fließt zurück nach Kalifornien. Die Beschäftigten sind dabei nur eine austauschbare Ressource, konsumierbares Gut in ihrer Welt der Spaßkultur.“

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