Roman. Aus dem Französischen von Helgard Rost. Unionsverlag, Zürich 2009, 188 Seiten, € 9,20
Das erstmals 1972 erschienene Werk liegt hier nun in einer preisgünstigen und überzeugenden Taschenbuchausgabe vor. Driss Chraïbi schildert aus der Perspektive der beiden Söhne auf poetische Weise die Entwicklung der Mutter im Marokko der 1950er Jahre. Sie wurde als Waise mit dreizehn Jahren an einen Fremden verheiratet, zog in dessen Haus und hat es jahrelang nicht mehr verlassen.
Nach und nach hält die Moderne Einzug in den kleinen Haushalt. Das Radio der Marke Blaupunkt, Elektrizität und das Telefon schaffen einen Raum, der zunächst noch mit der Magie großer Zauberer erfüllt ist, aber langsam den Weg in eine selbstbestimmte und gebildete Lebensweise öffnet. Kindhaft und fantasievoll betrachtet die Mutter all die neuen Errungenschaften und schafft sich mit ihrer liebevoll-bestimmten Art einen eigenen Raum. Die modernen Gerätschaften und der selbst auferlegte Wissensdurst kreieren eine neue Frau, die für den Vater nur schwer zu verstehen ist. Schulbesuch, politische Aktivitäten und die stete Frage nach dem Warum des Lebens führen schließlich zu einer Reise, um den im Ausland Medizin studierenden Sohn zu besuchen – das Ende bleibt unbestimmt und der Imagination der LeserInnen überlassen.
Sensibel beschreibt Driss Chraïbi die Zuwendung zweier Söhne, die durch ihr wachsendes Wissen ihrer Mutter einen Zugang zur modernen Welt ermöglichen wollen und damit eine Veränderung hervorrufen, die auch ihr Erwarten übersteigt. Die zögernde Furcht wird durch eine rasante Neugierde abgelöst, die ebenso die LeserInnen zu ergreifen scheint. Die Zivilisation als vermeintlicher Fremdkörper gewinnt immer mehr an Vertrautheit und nimmt ihren festen Platz im Leben der Mutter ein. Fortan ist sie eine „moderne“ Frau, die mit ihren Methoden erreicht, was sie sich vorgenommen hat. Ein Teil ihrer Entschlossenheit und Tatkraft ist jeder und jedem zu wünschen.