Die Yuppies von der Mahatma-Gandhi-Road

Von Helmut Opletal · · 2001/02

Bangalore im indischen Bundesstaat Karnataka hat sich zu einem Zentrum der internationalen Software-Industrie entwickelt. Immer mehr europäische und US-amerikanische Firmen lassen hier ihre Aufträge erledigen – Qualität und Schnelligkeit sind Trumpf.

Wer in Bangalore aus dem Flugzeug steigt, hat das Gefühl, dass hier einiges anders ist als im übrigen Indien. Statt schwüler Monsunhitze weht ein mild-warmes Lüftchen, und zumindest auf den ersten Blick scheint die Metropole mit ihren fünf Millionen Einwohnern sauberer, geordneter und auch wohlhabender als Delhi oder gar Kalkutta. Bangalore ist Indiens Boom-Town schlechthin, fast schon ein Synonym für die rasant wachsende High-Tech-Industrie, mit der das Entwicklungsland hofft, endlich der Armuts-Spirale zu entfliehen.
Die Yuppie-Bars und Diskotheken an der MG Road (das Kürzel steht nicht für „Maschinengewehr“, sondern „Mahatma Gandhi“!) sind jeden Abend voll mit Angehörigen des neureichen Mittelstandes, den jungen Ingenieuren, Computer-Technikern und Programmierern, denen es kaum etwas auszumachen scheint, dass ein paar Gläser Fassbier so viel kosten wie anderswo ein Monatslohn ausmacht. Mit den schicken Boutiquen und neuen Einkaufszentren suggerieren sie ein Indien-Bild, wie es noch vor 15 Jahren unvorstellbar war.
Natürlich gibt es, wenn man genau hinschaut, auch die Elendsviertel in Bangalore, die Tagelöhner und Straßenkinder, die Bettler und Obdachlosen. Geradezu wie ein Magnet zieht die expandierende Hauptstadt des Bundesstaates Karnataka Zuwanderer aus allen Teilen Indiens an, was die Kontraste zwischen den Gewinnern und denen, die nicht oder höchstens am Rande von dem Boom profitieren, noch verschärft.
„Es herrscht ein starker Druck auf die Infrastruktur. Der Straßenverkehr, die Luftverschmutzung, auch die Wohnverhältnisse der Menschen sind ein Problem“, sagt B.V.Naidu, der Verantwortliche der staatlichen Software Technology Parks of India in Bangalore. Doch eine halbe Million Menschen haben direkt und indirekt durch die Software-Industrie Arbeitsplätze gefunden. „Und da 65 Prozent der Einwohner von außerhalb stammen, ist die Stadt sehr liberal und kosmopolitisch geworden.“

Nicht nur die Computer- und SoftwareIndustrie, auch Fahrzeug- und Luftfahrt-Unternehmen sowie etliche Rüstungsbetriebe haben sich in Bangalore angesiedelt. Wegen seines milden Klimas in mehr als 1000 Metern Seehöhe entstand hier schon zur britischen Kolonialzeit ein wichtiges Verwaltungszentrum.
„Bis zur Unabhängigkeit 1947 besaß Indien so gut wie keine eigene Industrie“, sagt K.M.Mathur, der in Bangalore ein hochspezialisiertes Unternehmen für militärische Elektronik führt. „Alles kam aus England, sogar einfache Nähnadeln mussten importiert werden.“ Nach der Unabhängigkeit verfolgte Indien eine vom Staat gelenkte Industrialisierungspolitik, die nach einem hohen Grad an Selbstversorgung strebte, zunächst im militärischen Bereich.
In den sechziger und siebziger Jahren folgten große staatliche Unternehmen des Elektronik- und Telekommunikations-Sektors, samt Zulieferer- und Dienstleistungsfirmen. Auch erstklassige Hochschulen, Management-Institute und Forschungslabors wurden gegründet. Auch sie wurden Keimzellen für den Ende der achtziger Jahre einsetzenden fabelhaften Aufschwung der neuen Informations-Technologie – der „IT“, wie man hier überall sagt.
Lokalaugenschein in der „Electronic City“, Bangalores größtem High-Tech-Park, 20 Kilometer südlich der Stadt: Die von der Regierung geförderte Anlage gilt heute als Indiens „Silicon Valley“, als wichtigstes Software-Entwicklungszentrum.
Die eingezäunte ausgedehnte Grünoase wirkt zunächst unscheinbar. Ein paar niedrige Bürohäuser, mit Gärten und Wohnblocks dazwischen, verraten nicht, dass hier das Herz des indischen HochtechnologieSektors schlägt. Siemens und andere internationale Konzerne haben Entwicklungsbüros installiert, hier residieren auch indische Top-Firmen wie Infosys oder Wipro, die längst an der New Yorker Börse notieren, neben Dutzenden kleineren Unternehmen. Insgesamt 4000 IT-Firmen gibt es heute in der Stadt. Kaum jemand weiß, dass etwa Hotmail in Bangalore entstanden ist, bevor es an Microsoft verkauft wurde, oder dass beispielsweise Kernelemente von Windows 2000 hier entwickelt wurden.

Bei SIRI Technologies, einem „mittleren“ Software-Entwickler, begrüßt mich Srikanth Manchikanti. Sein nüchternes Büro sieht so gar nicht nach dem des Mitbesitzers und Geschäftsführers eines Unternehmens mit einem Börsenwert von umgerechnet drei Milliarden Schilling aus. Nach Abschluss des Informatikstudiums und einem mehrjährigen Praktikum in den USA hat Manchikanthi 1995 die Firma gemeinsam mit einem Kompagnon gegründet. Seither ist sie jedes Jahr um durchschnittlich 300 Prozent gewachsen. So wie die meisten Unternehmen hier entwickelt SIRI Technologies Software für internationale Großkunden, vor allem in Großbritannien, Singapur und den USA. Für eine einflussreiche New Yorker Bank wird zum Beispiel die gesamte Kontenverwaltung organisiert.
In einem klimatisierten Großraumbüro hämmern an die 50 Software-Entwickler, auch etliche junge Frauen, in die Computertasten. Gearbeitet wird – bei Bedarf – Tag und Nacht. Ein Springbrunnen im Hof suggeriert eine entspannte Arbeitsatmosphäre. „Wir möchten bewusst das kreative Potenzial unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern“, verweist Direktor Manchikanti auf die Erfahrungen in US-amerikanischen oder japanischen Forschungslabors, „daher haben wir auch eine Bibliothek und einen Fitnessraum eingerichtet, die von allen jederzeit genutzt werden können.“ Nur die Arbeit darf nicht liegen bleiben. Schnelligkeit ist beinahe das wichtigste Verkaufsargument.
Post und Transportanschlüsse sind dabei weitgehend überflüssig geworden, denn der Austausch mit den Kunden erfolgt ausschließlich über leistungsstarke Computerund Satellitenverbindungen. „Wenn unsere amerikanischen Auftraggeber am Abend etwas bestellen, haben sie am nächsten Morgen, wenn sie ins Büro kommen, das fertige Produkt schon vor sich“, sagt – durchaus stolz – eine junge Informatikerin.

Die Anfangsgehälter bei den IT-Firmen in Bangalore sind seit 1992 von umgerechnet 2000 auf 5000 Schilling gestiegen. Ein eingearbeiteter Software-Ingenieur kommt auf das Doppelte oder Dreifache. Leitende Angestellte größerer Unternehmen bringen es auf bis zu 200.000 US-Dollar im Jahr. Der Vorteil als Billiglohnland spielt immer weniger eine Rolle.
„Die Gehälter in unserem Sektor steigen in Indien durchschnittlich 30 Prozent im Jahr“, rechnet SIRI-Chef Srikanth Manchikanti vor, „es fällt oft schwer, qualifizierte Mitarbeiter zu halten.“ So erklärt sich auch, dass fast alle High-Tech-Unternehmen Beteiligungsmodelle für langjährige Arbeitskräfte entwickelt haben. Bei SIRI besitzt die Hälfte der Belegschaft Firmenaktien.
So ist auch die Green-Card-Debatte in Deutschland und anderen europäischen Ländern ein heißes Thema in Bangalore. Indische Zeitungen haben ausführlich über das deutsche Angebot, 20.000 Arbeitsvisa für Computer-Fachleute aus Nicht-EULändern auszustellen, berichtet.
Ganz neu ist die Diskussion über den sogenannten „Brain drain“, die „Abwanderung der klugen Hirne“, allerdings nicht. Schon seit Jahren nehmen viele Hochschulabsolventen gerne Jobs in den USA, in Kanada oder Australien an. „Aber dann fiel uns auf, dass viele unserer eigenen Firmen von Indern gegründet wurden, die längere Zeit im Ausland verbracht haben“, meint der Software-Park-Manager B.V.Naidu, „daher haben wir jetzt weniger Angst. Die Leute, die weggehen, sind sogar eine Chance für unsere Zukunft.“
Auch Srikanth Manchikanti glaubt, dass die Zeiten, in denen man eine Abwanderung von Fachkräften verhindern konnte, ohnehin vorbei sind: „Ökonomische Grenzen werden heute wichtiger als politische. Überall auf der Welt kommen die Leute mehr herum.“Von einem internationalen Aufschwung der IT-Industrie würden auch indische Unternehmen profitieren. „Und unsere Firma wird dann anbieten, nicht Leute zu schicken, sondern die Arbeit hier bei uns zu machen.“

Obwohl viele der indischen Software-Produkte ins Ausland gehen (auch österreichische Firmen wie die AUA lassen zum beispielsweise ihre Buchhaltung via Satellitenlink von indischen Fachkräften erledigen), sieht Manchikanti nutzbringende Effekte für die Gesellschaft. So wurde kürzlich das gesamte Buchungssystem des indischen Eisenbahnnetzes computerisiert – mit einem Volumen, das das Zweieinhalbfache des weltweiten Luftverkehrs umfasst! Und das mit ausschließlich indischer Software.
Unter den Fachleuten in der Electronic City sind die Meinungen gespalten. Herr Mallikarjun von Shri MM Softek hat keine Absicht, ins Ausland zu gehen. Seine Familie würde kaum mitkommen können, er kann sich auch in Bangalore einen angenehmen Lebensstandard leisten und fühlt sich durchaus wohl hier. Ein anderer Kollege denkt an Australien oder die USA, nach Europa will auch er auf keinen Fall. Wegen der Sprachprobleme, sagt er, und der Ausländerfeindlichkeit, über die er in indischen Zeitungen immer wieder gelesen hat.


Der Autor ist Außenpolitik-Redakteur beim ORF-Radio und verbrachte mehrere Jahre in China und Kenia.

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