Die Wüste im Nacken

Von Christa Wüthrich · · 2009/12

40 Prozent der Fläche der Mongolei sind von Wüste bedeckt, und es wird jährlich mehr. Die Hirtenfamilien kämpfen um ihre Existenz. Wer verliert, sucht das Glück in der Hauptstadt. Auch das ist ein oft erfolgsloses Unterfangen.

Das Einzige, was die mongolischen Nomaden im Überfluss haben, ist Zeit und Platz. An allem anderen mangelt es; seien es saftige Weiden und genügend Heu im Winter für die Tiere oder Erwerbsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven für die Menschen. Mit ihrer Jurte (mongolisch „Ger“) und der Herde ziehen die Hirtenfamilien von einem Weideplatz zum nächsten. Tagelang begegnen sie niemandem. Mit einer Fläche von 1,56 Millionen km2 (mehr als 18-mal so groß wie Österreich) und nur 2,7 Millionen EinwohnerInnen ist die Mongolei das am dünnsten besiedelte Land der Welt. Unendliche Weiten, menschenleere Ebenen und am Horizont schneebedeckte Berge prägen das Bild.

Was idyllisch klingt, ist jedoch ein erbarmungsloser Überlebenskampf. „Schon im Sommer finden wir nicht genügend Nahrung für die Herden. Auf den Weiden fehlt das Gras. Dafür macht sich ein giftiges Kraut breit, das die Tiere verenden lässt. Die Heuschreckenplagen verschlimmern die Situation zusätzlich“, erzählt Orgil. Er und seine Familie gehören zu den 170.000 Familien im Land, die ihren Lebensunterhalt als Hirten verdienen und jedes Jahr mit Angst den Winter erwarten. „Dzud“ nennen die Einheimischen die Kombination aus trockenen Sommern und sehr harten Wintern. Zwischen 1999 und 2001 fielen diesem Phänomen mehr als ein Viertel aller Tiere zum Opfer. Tausende Hirtenfamilien verloren ihre Existenzgrundlage. Doch auch ohne Dzud sind die harten Winter für die Nomaden verhängnisvoll. Viele der schlecht ernährten Ziegen, Schafe und Kühe überleben die Kälte nicht. Im vergangen Winter starben rund 80 Prozent von Orgils neugeborenen Schafen und Ziegen. Die Muttertiere waren zu schwach, um sie auszutragen und zu ernähren. Dieses Jahr droht das gleiche Unheil.

Viele der Hirten sehen den Klimawandel als Grund für ihre Situation. Fachleute hingegen beurteilen die Lage anders. „Die Schuld an der Desertifikation, der Ausbreitung der Wüste, kann nicht nur auf den Klimawandel abgeschoben werden. Für den Zustand des Weidelandes sind zu einem großen Teil die Hirten selbst verantwortlich“, meint Karl Schuler, Experte für das Management natürlicher Ressourcen, der vor Ort für die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) tätig ist. Seiner Sicht nach sind die Gründe für die Überweidung vielschichtig.

Unter dem sowjetischen System waren die Tiere verstaatlicht und deren Anzahl landesweit kontrolliert. 25 Millionen Tiere beweideten die Mongolei. Seit dem Kollaps des Sozialismus und der Privatisierung der Herden gibt es keine Beschränkungen mehr. Die Anzahl der Tiere hat sich verdoppelt. Das Weideland ist diesem Ansturm nicht gewachsen; die Weiden sind übergrast und erodieren. Wasser können die ausgelaugten Böden kaum mehr aufnehmen. Die Oberfläche wird weggespült. Büsche und Bäume, die Wind und Regen stoppen, sind durch Abholzung verschwunden. Starke Regenfälle werden zur Bedrohung. Ende Juli kamen bei Fluten in der Mongolei über zwanzig Menschen ums Leben; hunderte wurden obdachlos.

Zusätzlich wird die Situation der Hirten durch das fehlende Weidemanagement verschärft. Die sowjetischen Fachleute verließen das Land und mit ihnen das Wissen betreffend Ernte von Heu, Lagerung von Futter, Bewässerungssysteme und Weideregulierungen. Die Rohre der Bewässerungsanlagen grub die Landbevölkerung aus und verkaufte sie als Alteisen nach China. Weideland wurde zum Allgemeingut erklärt, auf dem jeder jederzeit seine Tieren grasen lassen kann. Vorratsflächen sind dadurch Mangelware. Nicht nur Übergrasung, sondern auch Misswirtschaft sind die Folgen. Der Fleischmarkt vor Ort ist übersättigt. Einen Exportmarkt gibt es kaum; die Qualität des mongolischen Fleisches entspricht nicht dem internationalen Standard. Und auch die von der Kaschmirziege gewonnenen Produkte wie die kostbare Wolle können qualitativ nicht mit der Weltspitze mithalten. Die Vereinten Nationen befürchten, dass ohne Veränderung der Landnutzung bis 2050 an die 70 Prozent des Landes mit Wüste bedeckt sind. Für die Hirtenfamilien wäre dies ein Todesurteil.

Flucht in die Stadt: Einen Ausweg aus dem Teufelskreis aus Übergrasung und Desertifikation sollen Weidemanagement-Programme bieten. Das Schweizer „Green Gold“-Projekt hat dabei eine Vorzeigerolle inne. Die Hirten schließen sich in „Pasture User Groups“ zusammen, um gemeinsam Weideflächen nachhaltig zu nutzen. Dazu gehört das Pflegen von Wasserquellen, der Anbau und das Erschließen von alternativen Einkommensquellen; seien es Treibhäuser für das Anpflanzen von Gemüse oder Nähmaschinen, um Textilien zu verarbeiten. Der Zustand der Weiden und die Anzahl der Tiere sollen sich wieder zurück zu einem für die Natur gesunden Gleichgewicht entwickeln.

Doch für viele Hirtenfamilien kommt solche Hilfe zu spät. Sie haben ihr Leben auf dem Land aufgegeben und sind mit ihrer Jurte in die Hauptstadt gezogen. Rund die Hälfte der 2,7 Millionen Mongolen lebt in Ulaanbaatar. Laut Schätzungen zufolge kommt jede Stunde eine neue Familie mit ihrem Ger an, um hier ihr Glück zu finden. Zu ihnen gehört auch die 45-jährige Tsagaan. Mit ihrem Mann und den zwei Söhnen im Teenager-Alter ist sie 2007 vom Land an den Rand der Hauptstadt gezogen. Fließendwasser und eine Kanalisation sucht man hier vergebens. Die Landflucht stellt die Stadt vor massive ökologische, aber auch soziale Probleme. Tsagaan und ihre Familie haben in den vergangenen zwei Jahren keine Arbeit gefunden.

„Durch das sozialistische System war wenigstens eine Arbeitsstelle garantiert. Jetzt sind wir frei, doch was ist das Leben ohne Arbeit?“ Tsagaan ist nicht die einzige Mongolin, die sich diese Frage stellt. Schätzungsweise 30 Prozent der arbeitsfähigen Menschen sind ohne Arbeit. An die 36% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Auf dem Land beträgt diese Zahl laut Studien der Weltbank über 43%. Die Armut der Bevölkerung steht in großer Diskrepanz zum mongolischen Rohstoffreichtum. Das Land verfügt über Kupfer, Gold, Eisenerz, Uran und Kohle.

Mongolei
Auf einer Fläche von über 1,5 Mio km2 leben knapp 2,8 Mio Menschen; das Bruttoinlandsprodukt beträgt weniger als vier Mrd. US-Dollar.
Von 1924 bis 1990 kommunistische Volksrepublik, seither sind die „Revolutionäre Volkspartei“ (MRVP) und die „Demokratische Partei“ (MDP) die bestimmenden politischen Kräfte. Nach den Parlamentswahlen Ende Juni 2008 kam es in der Hauptstadt zu Ausschreitungen, nachdem die MDP die MRVP des Wahlbetrugs bezichtigte.
Im vergangenen Oktober gab die Regierung den Weg für die Ausbeutung der großen Kupfer- und Goldvorkommen durch ausländische Unternehmen frei.
red

Die Hauptstadt wird von arbeitssuchenden, oft schlecht ausgebildeten Arbeitskräften aus den ländlichen Gegenden überschwemmt. Die neue dienstleistungsorientierte Gesellschaft sucht hingegen nach qualifiziertem Fachpersonal. Als Müllsammler oder Tagelöhner versucht Tsagaans Familie, ihr Auskommen zu finden. Doch auch hier ist die Wirtschaftskrise spürbar. Die Preise für gesammeltes Alteisen, Petflaschen, Papier, Tierknochen oder Glas sind seit Anfang des Jahres um 30 % eingebrochen. 90% der Bauvorhaben in der Hauptstadt stehen still. Banken geben keine Kredite mehr und viele Investoren haben sich zurückgezogen.

Trotz der wirtschaftlichen Misere und der verbreiteten Korruption hofft Tsagaan auf eine bessere Zukunft. Vergangenen Mai wurde mit dem Demokraten Tsakhiagiin Elbegdorj ein neuer Präsident gewählt. Der Wahlkampf war geprägt von Versprechungen. Jeder Mongole soll von den Erlösen der Bodenschätze profitieren, ließen die Politiker verlauten. Die Demokraten versprachen jedem Bürger und jeder Bürgerin eine Million Tugrik (ca. 465 Euro); die Mongolische Revolutionäre Volkspartei erhöhte spontan auf 1,5 Mio. (ca. 695 Euro). „Statt Geld zu versprechen, soll die Regierung den Menschen Arbeit geben. Nicht das Versprechen einer einmaligen Zahlung verbessert die Situation der Menschen, sondern ein regelmäßiger, sicherer Lohn“, kritisiert Sanjaasuren Oyun, die ehemalige mongolische Außenministerin und Oppositionspolitikerin. „Wir müssen ein politisch, wirtschaftlich und sozial gesundes System schaffen, das nachhaltige Entwicklungen zulässt“, betont die Parlamentarierin und proklamiert eine Politik der Mitte.

Ob dies in den nächsten Jahren möglich wird, bleibt fraglich. Nach jahrelangen Verhandlungen schlossen im Oktober 2009 der australische Bergbaugigant Rio Tinto und sein kanadischer Partner Ivanhoe Mines eine Investitionsvereinbarung betreffend die Erschließung von Kupfer- und Goldvorkommen mit der mongolischen Regierung ab. An die 450.000 Tonnen Kupfer pro Jahr sowie 330.000 Unzen Gold sollen über einen Zeitraum von 35 Jahren gefördert werden. Für den mongolischen Staat verspricht dieses Abkommen einen Geldsegen. Was es für die Bevölkerung bedeutet, ist noch nicht abzusehen.

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Sie arbeitet für verschiedene Printmedien mit dem Fokus auf Entwicklungspolitik und Länder der Dritten Welt (www.wuethrich.eu).

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