Die Welt, ein Feld von Möglichkeiten

Von Franz M. Wimmer · · 2000/10

Die Schubkarre benötigte acht Jahrhunderte, um ihren Weg von den Erfindern in China bis ins mittelalterliche Europa zu gelangen. Eine vergleichsweise praktische Erfindung würde heute in Zeiten der Globalisierung lediglich in ihrer Verwertung patentrechtlich kanalisiert. Doch wie ist es dabei um jene bestellt, die die Schubkarre bedienen? Philosophische Betrachtungen von

Die junge Österreicherin, die zur Entbindung ihres zweiten Kindes zu ihren Eltern reist, benötigt dafür nicht ganz einen Tag. Sie stammt aus Kerala in Südindien und sie wird schneller von Wien dorthin kommen, als es früher einmal für eine junge Mutter aus Mähren möglich war, unter ähnlichen Umständen ihr Heimatdorf zu besuchen.

Wenn ein Finanzexperte in einem der ökonomischen Zentren gewisse Verlagerungen vornimmt oder auch nur eine besorgte Miene bei einer Pressekonferenz zur Schau trägt, so kann das den Regierungswechsel irgendwo anders unvermeidlich machen und Veränderungen im alltäglichen Leben für viele Menschen bedeuten, die ihm gänzlich unbekannt sind.

Was PolitikerInnen in der Europäischen Union Kopfzerbrechen bereitet, ist eine zunehmende Zahl von EinwandererInnen, die man eigentlich als Eingesandte bezeichnen müsste: kleine Kinder. Deren Eltern und Verwandte sind anscheinend davon überzeugt, dass diese Kinder ein besseres Leben haben werden, wenn sie in Europa aufwachsen.

Unter dem Kapitel „Weltliteratur“ finde ich im Buchkatalog immer noch die großen Werke regionaler Traditionen: das Mahabharata, den Traum der roten Kammer, Krieg und Frieden und, wenn es ein englischer Katalog ist, den Faust. Neuerdings meinen LiteraturwissenschafterInnen mit „Weltliteratur“ allerdings etwas anderes: Werke nämlich, die den Menschen so darstellen, wie er einer überall ähnlichen oder gleichen Realität begegnet.

Eine Liste solcher Episoden wäre lang und immer wäre darin von Aneignungen, Übernahmen, Wanderungen die Rede. Von einem Transport der Ideen, der Lebens- und Genussmittel, der Arbeits- und Kleidungsformen, der Arten des Wohnens und Heilens. Es geht bei dem, was Globalisierung genannt wird, um Mobilität, um Differenz und Aneignung, um Kontrolle und Ausweitung von Märkten, um Standardisierung, um Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit von Ungleichem.

Was sind im allgemeinen die Phänomene, die uns an Globalisierung denken lassen? Man kann sie wohl als die Bereiche der Produktion von Gütern und Ideen, ihrer Transportformen und der entsprechenden technischen Mittel, der Formen von Kommunikation und Dokumentation und schließlich der Siedlungs- und Verwaltungsformen zusammen mit dem Bereich der Normvorstellungen bezeichnen. Nur kurze Hinweise sollen hier zu einzelnen dieser Bereiche gegeben werden.

Es gibt mehrere Gründe, die dazu geführt haben, dass zuerst nach den Erschließungen neuer maritimer Handelsrouten durch Europäer vor ungefähr 500 Jahren, unverkennbar aber mit dem industriellen Kapitalismus seit etwa 200 Jahren Prozesse einer Vereinheitlichung wichtiger Lebensbereiche und der Techniken ihrer Bewältigung bei den meisten Menschen der Erde stattfinden, wie sie zuvor in der Menschheitsgeschichte nicht festzustellen sind. Vermutlich ist nicht ein einziger einzelner Umstand dieser Geschichte einmalig gewesen mit Ausnahme der zufälligen Entdeckung der Amerikas.

In diesem Prozess haben sich nicht nur industrialisierte Gesellschaften entwickelt, es fand auch die Entwicklung von Unterentwicklung statt, „Nationen“ und auch „Stämme“ wurden geschaffen, Weltmärkte und Weltgeschichte. Die wichtigsten Faktoren dieses Geschehens liegen in der Wirksamkeit der zuerst in Europa entstandenen Formen von Herrschaft über Naturgegenstände, Werkstätten und Gesellschaften sowie in der tatsächlichen Fähigkeit, in einem weltweiten Maßstab Konkurrenten zu Untertanen zu machen.

Keines der früheren politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Gebilde war dazu imstande, weder das römische Reich noch die arabisch-islamischen Reiche oder die Mongolen, weder das Inkareich noch China. Sie alle kannten Expansion und auch Assimilation ihrer Konkurrenten in großem Maß, aber sie alle kannten auch Randvölker, die sie zwar zeitweise ausgrenzen oder verdrängen, aber nicht einbeziehen konnten. Güteraustausch und Menschenhandel waren über diese Grenzen hinweg zwar möglich, nicht jedoch die Indienstnahme ganzer Bevölkerungen als ProduzentInnen oder KonsumentInnen.

Mobilität ist vielleicht derjenige Ausdruck, an dem wir uns viele der Phänomene deutlich machen können, die mit „Globalisierung“ verbunden werden. Menschen wandern, freiwillig als TouristInnen oder „global players“, mehr oder weniger freiwillig als ArbeiterInnen, unfreiwillig als Flüchtlinge. Es wandern Ideen und Geschmäcker, Kleider und Tänze, Arbeitsstellen, alte und neue Mythen. Das war, könnte man sagen, schon immer so. Es genügt aber, an die acht Jahrhunderte zu erinnern, die eine so praktische Erfindung wie die Schubkarre benötigte, um ihren Weg von den Erfindern in China bis ins mittelalterliche Europa zu bewältigen. Eine vergleichsweise praktische Erfindung würde heute lediglich in ihrer Verwertung patentrechtlich kanalisiert.

In der Geschichte Europas und des Christentums spielten Orden eine wichtige Rolle: Organisationen, die zuweilen quer zu den Instituten der Gesellschaft ihre Normen entwickeln. Der Benediktinerorden, beispielhaft für das Zeitalter des Feudalismus, pflegte das Ideal der „stabilitas loci“: Der Mönch, auch wenn er reisen mochte, gehörte zu einem Ort, zu seinem Heimatkloster. Die erste Ordensgründung der Neuzeit pflegte das gerade gegenteilige Ideal: Jesuiten sollten nur ihrer Gruppe und deren Hierarchie, nie einem bestimmten Ort zugehörig sein. Die „mobilitas loci“ verlangte von ihnen, sich nirgends einzunisten, stets auf Abruf bereit zu sein und von einem Tag auf den andern irgendwohin auf dem Globus zu gehen, wenn Vorgesetzte dies verlangen, mit neuen Aufgabestellungen und Arbeitsfeldern, zur Ausweitung des „Reiches Gottes“.

Der Globalisierungsprozess auf dem Gebiet der Produktion und der Administration, wie er sich in den letzten Jahrzehnten sehr beschleunigt und intensiviert hat, verlangt von seinen AkteurInnen dasselbe: jeden Ort nur als Feld von Möglichkeiten zu betrachten und jeweils demjenigen den Vorzug zu geben, der ein Maximum an Wirksamkeit erlaubt. Die Missionare des Fortschritts und der globalisierten Märkte stehen unter einem vergleichbaren Imperativ: hinzugehen, wann und wohin immer, wenn das Wachstum der Wirtschaft dies erfordert. Elias Canetti hat darin die Fortsetzung der alten Religionen gesehen:

„Die Macht der großen Klagereligionen geht ihrem Ende zu. Sie sind von der Vermehrung überwuchert und allmählich erstickt worden. In der modernen Produktion hat der alte Gehalt der Vermehrungsmeute eine so ungeheuerliche Steigerung erfahren, dass alle anderen Gehalte unseres Lebens daneben schwinden. Die Produktion spielt sich hier, in diesem irdischen Leben, ab. Ihre Rapidität und ihre unübersehbare Vielfalt erlaubt keinen Augenblick des Stillstandes und der Überlegung. Die furchtbarsten Kriege haben sie nicht erdrückt. In allen feindlichen Lagern, wie immer diese beschaffen sein mögen, ist sie gleichermaßen wirksam.
Wenn es einen Glauben gibt, dem die lebenskräftigen Völker der Erde eins ums andere verfallen, so ist es der Glaube an die Produktion, den modernen Furor der Vermehrung.“ („Masse und Macht“. München: Hanser 1960, Bd. 2, S. 214)

Vielleicht hat Canetti sich getäuscht. Vielleicht ist die Attraktivität von Traditionen wie dem Taoismus – in dessen klassischen Texten gerade das Lob des Nutzlosen eine so große Rolle spielt – mehr als bloß eine Art von Stresstherapie, indem sie wieder zu Augenblicken „des Stillstands und der Überlegung“ führt?

Wahrscheinlich hat Canetti sich darin nicht getäuscht: Die Steigerung von Produktion und Konsumtion bestimmt den Grundkonsens im Prozess der Globalisierung. Alles andere ist „Nebenwirkung“.

Die heutige Welt zeigt einen hohen Grad an Vereinheitlichung, wenn wir beispielsweise an die Bewertung und Ausbeutung von Naturschätzen oder an die Technik von Vehikeln denken, worunter alle Geräte und Verfahren zum Transport von Dingen, Menschen, Nachrichten oder Appellen verstanden werden können. In allen diesen Bereichen haben sich Techniken weitgehend durchgesetzt, die im Vergleich zu den in früheren Gesellschaften geübten Techniken verhältnismäßig unabhängig sind von Besonderheiten klimatischer oder auch weltanschaulicher Art.

Dass die Verfügung über Erdöl und Uranium von so hohem Wert ist, dass ihr andere Werte unterzuordnen sind, ist eine Aussage, die viel universeller akzeptiert wird, als jemals eine religiöse Erlösungsbotschaft akzeptiert worden ist. Autos und Schiffe, Jets, Bücher, Computer und Netzwerke sind überall auf dem Globus mehr oder weniger gleich, auch wenn ihre Verteilung sehr ungleich ist. Weder der Einsatz noch auch die Produktion dieser Dinge ist in einer Weise von regionalen Bedingungen abhängig wie es die Wandermöglichkeiten von Nutzpflanzen und ihr Einfluss auf die Entwicklung bäuerlicher Gesellschaften war.

Welche Form politischer Organisation in einer Gesellschaft die richtige sei, wie das Verhältnis zwischen religiösen und weltlichen Institutionen zu regeln sei, welche Rechte und Pflichten Menschen im allgemeinen haben, wie Bürger- und Souveränitätsrechte auszuüben seien, nach welchen Maßstäben Minderheiten zu behandeln seien und zwar sowohl bodenständige als auch andere, wie sie beispielsweise durch Flucht aus Kriegsgebieten oder durch Arbeitsmigration sich bilden – all dies sind Fragen, in denen durchaus größere Uneinigkeit anzutreffen ist als etwa bei einer Entscheidung für das eine oder andere Betriebssystem von Computern.

Es sind Fragen, die das Selbstverständnis von Menschen in der Weise betreffen, dass beantwortet werden soll, warum und nicht nur wie etwas sein oder getan werden soll.

Wie in solchen Fragen weiterzukommen ist, bleibt ein dringliches Problem. Es gibt nicht viele Instanzen, die sich berufen fühlen, hier an Lösungen zu arbeiten und es gibt auch nicht viele Ansätze dazu. Unter den Instanzen wären internationale Organisationen zu nennen, ebenso internationale Konfessionen, aber auch staatliche Einrichtungen wie etwa einzelne Regierungen. Die jeweiligen Interessen solcher Instanzen sind komplex; ich will hier daher nur idealtypisch einige mögliche theoretische Ansätze ansprechen.

Ein Ansatz, sowohl in Religionen als in philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen und bbei politischen Repräsentanten anzutreffen, liegt darin, einen Konsens der eigenen Tradition zum einzig möglichen Maßstab zu erklären und nach wirksamen Mitteln zu suchen, diesem Maßstab universelle Geltung zu verschaffen. Ein solcher Versuch, den man als „expansiven Zentrismus“ benennen kann, ist aus der Geschichte und Gegenwart sowohl des Kolonialismus als auch der Entwicklungstheorie und -politik ebenso bekannt wie aus der Geschichte der religiösen Missionierung.

Bei ähnlichen Überzeugungen von der konkurrenzlosen Gültigkeit der eigenen Orientierungswerte kann, logisch gesehen, auch eine entgegengesetzte Strategie verfolgt werden, indem man auf die Vorbildwirkung setzt. Die eigene, gute Form des Lebens braucht keine Werbung und keine Drohung, sie braucht also weder auf Angst durch Drohung, noch auf Hoffnung durch Versprechen zu setzen, um konkurrierende Auffassungen aus dem Feld zu schlagen. Man kann hier von einem „integrativen Zentrismus“ sprechen. Wie die erstgenannte Form hat auch diese die stillschweigende Voraussetzung, dass ihre wesentlichen Inhalte unverändert bleiben, wenn sie sich – möglicherweise global – ausbreiten, eine allerdings trügerische Voraussetzung.

Dazu kommt aber noch, dass das Zentrum sich durch seine eigene Anziehungskraft gefährdet sehen kann und die Kontrolle über den Prozess mit Hilfe von Grenzen ausbaut. Hier wie im ersten Ansatz liegt theoretisch die zentrale Schwierigkeit darin, dass die grundlegenden Voraussetzungen nicht in Frage gestellt werden dürfen.

Darum kann ein dritter Ansatz verfolgt werden, wenn die allgemeine Durchsetzbarkeit der eigenen Denk- und Bewertungsweise fraglich wird: Die einen lassen die anderen theoretisch in Frieden und verlangen lediglich, auch in Frieden gelassen zu werden. Gemeinsam vertretbare Lösungen werden dann nicht angestrebt, die Kritik richtet sich vielmehr gegen universalistische Versuche im allgemeinen. Ich nenne das einen „separativen Zentrismus“. Hier gibt es scheinbar keine Vereinnahmung, außer natürlich gegenüber den Mitgliedern der jeweils eigenen Gruppe, die als möglichst homogen dargestellt wird. Der Toleranz nach außen entspricht keineswegs Toleranz nach innen, und das ist die Crux dieser Option. Ansonsten können VertreterInnen einer solchen Strategie sehr wohl erfolgreich unterscheiden zwischen den global ähnlichen technischen Mitteln, die sie anwenden und den Orientierungszielen des Lebens, in denen sie sich von anderen unterscheiden.

PhilosophInnen können sich eigentlich mit keinem dieser drei Ansätze zufrieden geben. Sie können sich weiter auf nichts stützen als auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente – und darum dürfen sie nichts außer Frage stellen. Sie können nicht darauf vertrauen, in der eigenen Tradition alles überhaupt Wertvolle schon zu haben – und darum müssen sie nach den Ideen der Anderen fragen und müssen sich mit diesen auf gleicher Ebene in Argumentation einlassen. Sie können drittens sich nicht auf eine ethnisch, kulturell, national oder wie immer begrenzte Gültigkeit zurückziehen – und darum werden sie der Absicht nach stets universalistisch sein müssen, allerdings im Bewusstsein einer durch die jeweils anderen kritisierbaren Überzeugung. Ich nenne das einen „versuchsweisen“ oder „tentativen Zentrismus“.

Philosophie in diesem Sinn nicht nur als dialogisches, sondern als polylogisches Verfahren zwischen Gleichen bei inhaltlicher Differenz, könnte eine Aufgabe im Orientierungsprozess unter den Bedingungen der Globalisierung haben.


Franz M. Wimmer ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien.

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