Vor hundert Jahren ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Im globalen Süden wurde er als ein tragischer Höhepunkt in einer langen Kette von Gräueltaten der europäischen Kolonialmächte erlebt. Allein in Ostafrika gab es bis 1918 eine Million Tote.
Das österreichische Gedenken an den Ersten Weltkrieg ist ganz auf Europa konzentriert. In einem Hörspiel auf Ö1 blitzte die globale Dimension dieses Konfliktes auf. In der „Stunde der Erkenntnis“, einer im Sommer 1914 spielenden Liebesgeschichte von Arthur Schnitzler, heißt es über eine Hauptperson: Sanitätsrat Rudolf Ormin sei nach Triest gereist, um mit dem österreichischen Dampfer „Amphitrite“ zum „japanischen Kriegsschauplatz“ zu fahren.
Tatsächlich hatte Japan im August 1914 als Verbündeter der „Entente“ aus England, Frankreich und Russland den „Mittelmächten“ Deutschland und Österreich den Krieg erklärt. Und nicht nur der Ferne Osten, alle Weltregionen wurden in den Großen Krieg hineingezogen, bei dem 17 Millionen Menschen starben und der für Österreich 1.563 Tage dauerte.
Der mit bis dahin unbekannter Gewalt betriebene Zusammenstoß der Großmächte bedeutete das Ende für Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Das Deutsche Reich, 1918 ein weiterer großer Verlierer, hatte nach dem Krieg keine Kolonien mehr. Briten und Franzosen teilten sie unter sich auf. Sie eigneten sich auch Staaten an, die auf den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden. Damit haben sie jene Dauerkrise mit zu verantworten, die bis heute als Nahostkonflikt bekannt ist.
Dass die USA mit ihrem Kriegseintritt 1917 zur Weltmacht wurden, steht in jedem Schulbuch. Aber dass es in den europäischen Kolonien in Afrika zwei Millionen Tote und Abermillionen von Menschen gab, die an Kriegsfolgen wie Hunger und Epidemien litten, wird kaum wo erwähnt. Gleichzeitig gab es in Afrika und Indien auch Widerstandsaktionen gegen die Kolonialherren. In Lateinamerika, wo nur noch wenige Kolonien existierten, entstand ein neues, von Europa unabhängiges Selbstbewusstsein.
Österreich-Ungarn hatte sich bei seinen imperialen Eroberungen vor dem Ersten Weltkrieg auf Ost- und Südosteuropa konzentriert. Überseekolonien gab es keine – bis auf die Nikobaren-Inseln nördlich von Indonesien, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts für kurze Zeit österreichisch waren.
Im Jahr 1899 schickte Österreich mit dem Kriegsschiff „SMS Kaiserin Elisabeth“ Emissäre nach China, um zur Ankurbelung des Fernosthandels einen Hafen zu pachten. 1901 erwarb Österreich eine Konzession im Hafen Tien-tsin, so wie Deutschland zuvor den Hafen Tsingtau gepachtet hatte. Dort, in Tsingtau, lag die „Kaiserin Elisabeth“ 1914 zufällig vor Anker.
Das Deutsche Reich hatte in den Jahren davor seine Kriegsflotte vergrößert. Das erregte den Argwohn der Briten, die Rohstoffe und Lebensmittel günstig aus ihren Kolonien bezogen und Industriewaren profitabel dorthin lieferten. Um die Seewege abzusichern, unterhielten sie eine mächtige Flotte. Briten und Deutsche lieferten sich auf den Weltmeeren bald ein wahres „Wettrüsten“, wie der Oxford-Historiker Hew Strachan schreibt.
Die Deutschen stationierten ihre Kriegsschiffe in China und in ihren Kolonien auf pazifischen Inseln wie Neuguinea und Samoa – einer von den Briten vernachlässigten Region.
Als der Krieg im August 1914 in Europa ausbrach, ermunterten die Briten das verbündete Japan, deutsche und österreichische Schiffe anzugreifen. Es gab zwar Warnungen, dass die Kolonialmacht Japan (die damals schon Korea beherrschte) diese Chance nutzen könnte, um große Gebiete Chinas zu erobern, das durch innere Konflikte geschwächt war. Diese Stimmen fanden aber, so Strachan, kein Gehör.
Im August 1914 griffen japanische Truppen den Hafen Tsingtau an. Nach monatelangen Kämpfen gaben die Verteidiger auf. Der beschädigte Kreuzer „SMS Kaiserin Elisabeth“ wurde von der eigenen Mannschaft gesprengt.
21 Jahre davor hatte der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand mit diesem Schiff eine Weltreise unternommen (siehe auch SWM 5/2014, Seite 9). Auf seine Ermordung in Sarajewo am 28. Juni 1914 antwortete der österreichische Kaiser einen Monat später mit der Kriegserklärung an Serbien, die als Kettenreaktion der Allianzen den Weltkrieg auslöste.
Wenige Monate danach war nicht nur dieses österreichische Schiff gesunken. Auch die deutschen Ambitionen, auf den Weltmeeren eine führende Rolle zu spielen, waren zerstört. Australische und neuseeländische Truppen eroberten rasch Neuguinea und Samoa. Ein größerer Verband deutscher Kriegsschiffe dampfte zunächst über den Pazifik nach Chile ab, das wie die meisten Staaten Lateinamerikas bis Kriegsende neutral blieb. Die deutschen Schiffe umrundeten danach bei Kap Hoorn die Südspitze Südamerikas, trafen im Dezember 1914 vor den Falklandinseln dann aber auf britische Kriegsschiffe, von denen sie beschossen und versenkt wurden.
Auf dem Festland ging es um eine Umverteilung der Kolonien. Besonders in Afrika, wo die europäischen Mächte im 19. Jahrhundert praktisch alle Gebiete (mit Ausnahme Äthiopiens und Liberias) unter sich aufgeteilt hatten. Österreich war leer ausgegangen, was aber nicht heißt, dass es keine kolonialen Ambitionen gab. Wissenschaftliche Expeditionen, etwa nach Uganda, hätten durchaus „kolonialen Hintergrund“ gehabt, schreibt der Historiker Simon -Loidl in seiner Dissertation an der Uni Wien. Für Österreich war auch der Sudan „interessant, wo man stark missionarisch tätig war“.
Das Deutsche Reich herrschte seit den 1880er Jahren über vier afrikanische „Schutzgebiete“: Togoland (heute Togo und Teile von Ghana), Kamerun sowie Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika (Namibia und Tansania). In den meisten dieser Kolonien waren nur je 2.000 deutsche Soldaten zum Schutz der weißen Siedler stationiert. Die Einheimischen zu bewaffnen wagte man etwa in Südwestafrika nicht, weil es dort 1904 einen Aufstand des Herero-Volks gab.
In Berlin hoffte man, dass die Kolonien aus dem Konflikt der europäischen Mächte herausgehalten werden könnten. Und auch die britische Zeitung „East African Standard“ schrieb in Kenia noch Anfang August 1914, dass die Europäer nicht einander bekämpfen, sondern besser „die Afrikaner unter Kontrolle halten“ sollten.
Doch kurz danach marschierten britische und französische Truppen in Togoland ein. Von Nigeria aus eroberten Briten und einheimische Söldner Kamerun. Das relativ eigenständige, von Weißen beherrschte Südafrika wollte sein Einflussgebiet ebenfalls ausweiten. Es entwickelte ein „subimperiales Projekt“, wie es der Berliner Politologe Herfried Münkler nennt. Südafrika beteiligte sich ungeachtet bestehender Spannungen mit London am britischen Feldzug gegen Deutsch-Südwest-, aber auch gegen Deutsch-Ostafrika.
Trotz der Sorge, dass die weiße Vorherrschaft wackeln könnte, wenn Afrikaner auf Europäer schießen, bewaffneten die Deutschen in Ostafrika 12.000 Einheimische, die sogenannten „Askaris“ (Swahili für Soldaten), zu denen noch 45.000 schwarzafrikanische Träger kamen.
Die Briten ließen indische Soldaten sowie an die 50.000 Askaris für sich kämpfen und hatten bis zu einer Million Lastenträger im Einsatz. In Deutsch-Ostafrika dauerte der Konflikt bis 1918. Von den Soldaten sollen an die 200.000 umgekommen sein.
Über das Schicksal der Träger wusste man lange Zeit wenig. Sie wurden in den Dörfern vieler Gebiete Afrikas oft zwangsweise rekrutiert und mussten für die kämpfenden Truppen Munition und Nachschub durch das weder von Straßen noch von Eisenbahnen erschlossene Gelände schleppen. Pro Soldat gab es drei bis sechs Träger, bis zu acht für einen Offizier. Sie schleppten an die 30 Kilo schwere Lasten im Schnitt 20 Kilometer pro Tag und wurden sehr schlecht ernährt. Viele starben an Mangelkrankheiten wie Beriberi oder an der Ruhr.
Weil diese Männer daheim bei der Bearbeitung der Felder fehlten, kam es bei Kriegsende in weiten Teilen des subsaharischen Afrika zu Hungersnot, der eine tödliche Grippewelle folgte. Laut Angaben von Historikern gab es allein in Ostafrika eine Million Tote. Der britische Afrikanist Edward Paice gibt die Gesamtzahl der Toten in Afrika mit zwei Millionen an. Unter den Kriegsfolgen haben an die 50 Millionen AfrikanerInnen schwer gelitten.
Deutschland war als Kolonialmacht 1918 ausradiert. Die Völker Afrikas kämpften dagegen noch bis in die 1960er Jahre (Namibia bis 1980) um ihre Unabhängigkeit. In West- und Nordafrika gab es schon während des Ersten Weltkriegs Aufstände. England und vor allem Frankreich setzten insgesamt 650.000 afrikanische „Kolonialsoldaten“ auf europäischen Kriegsschauplätzen ein (siehe Bericht auf Seite 16). Besonders in Algerien, aber auch in Senegal, kam es zu Aufständen gegen die Truppenrekrutierungen. Die islamische Sekte der Senussi griff – mit deutscher und mit osmanischer Unterstützung – die Briten in Ägypten an.
Zum schon länger zerbröselnden Osmanischen Reich, dem Verbündeten Deutschlands und Österreichs, gehörte damals noch die arabischsprachige Welt mit Ausnahme Nordafrikas. Die Briten machten die Schwachstelle der Osmanen bei Gallipoli aus, einer Ägäis-Halbinsel, auf der sie landen und dann Konstantinopel (das heutige Istanbul) erobern wollten. Doch dieses Unternehmen schlug 1915 katas-trophal fehl. 320.000 osmanische sowie einige Tausend deutsche und österreichische Soldaten verteidigten Gallipoli. Von den 470.000 Angreifern, vor allem von den 30.000 Soldaten aus Australien und Neuseeland (den sogenannten ANZAC-Truppen), kamen viele ums Leben. Insgesamt gab es in Gallipoli an die 140.000 Tote. In Australien wird auch jetzt noch alljährlich der ANZAC-Toten gedacht.
Bewaffnete „Askaris“ (Swahili für „Soldaten“) und Träger 1917 in Deutsch-Ostafrika.
Briten und Franzosen verlegten ihre Stoßrichtung ins östliche Mittelmeer und zur arabischen Halbinsel. Besonders die Briten verfolgten dabei eine doppelzüngige Politik. 1915 versprachen sie den Anführern der Araber, sie könnten einen eigenen Staat („Arabistan“) haben, wenn sie sich gegen die Osmanen erheben. 1916 begann dieser Aufstand tatsächlich, als Berater hatten die Araber den britischen Archäologen und Geheimagenten Thomas Edward Lawrence („von Arabien“) an ihrer Seite.
Im November 1917 verfasste der britische Außenminister Arthur Balfour eine Deklaration, die im Widerspruch zur Zusage an die Araber stand: Darin versprach er zionistischen Organisationen die „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“. Bereits 1916 hatten Briten und Franzosen zudem das geheime Sykes-Picot-Abkommen geschlossen, in dem sie die künftige Kriegsbeute aufteilten: Frankreich bekam Syrien und den Libanon, England die südlich und südöstlich davon gelegenen Gebiete. Bis es soweit war, starben im Nahen Osten 100.000 Menschen. 1,5 Millionen Soldaten waren im Einsatz, darunter auf britischer Seite auch hundertausende Inder.
Ein Netzwerk indischer Hindu-Nationalisten zog während des Weltkriegs eine internationale Verschwörung gegen die britische Herrschaft auf. Unterstützt wurde das weltweite Netz von irischen Unabhängigkeitskämpfern, aber auch von den Deutschen. In San Francisco in den bis 1917 neutralen USA ließ ein deutscher Diplomat ein Schiff mit tausenden Gewehren und mit Millionen Schuss Munition für einen Aufstand in Indien beladen. Die Verschwörung flog auf, zahlreiche Hindus wurden in Indien hingerichtet. Das Schiff, die Annie Larsen, strandete in Mexiko, wo die Waffen vermutlich bei den Parteien der damals im Gang befindlichen Revolution landeten.
Versuche der Deutschen, Mexiko auf ihre Seite zu ziehen, sollen 1917 den Kriegseintritt der USA mit ausgelöst haben. Auch Brasilien erklärte Deutschland den Krieg, nachdem deutsche U-Boote seine Handelsschiffe attackiert hatten. Obwohl sich nur wenige Soldaten Brasiliens am Krieg beteiligten, nahm es 1919 als Siegermacht an den Friedensverhandlungen von Versailles teil und gewann so an Bedeutung. Politisch und wirtschaftlich machten Brasilien und ganz Lateinamerika bald die Erfahrung, dass Europa bankrott war und keine Rohstoffe mehr kaufen konnte, was in der „Neuen Welt“ Millionen in die Armut trieb. Als Weltpolizist wurden die Europäer von den USA abgelöst.
In Lateinamerika werde der Erste Weltkrieg vor allem als Anstoß zur eigenen Entwicklung, als Abkoppelung von Europa erlebt, berichten Journalisten der „Deutschen Welle“. Der deutsche Auslandsfunk hatte heuer in Ländern des globalen Südens nachgefragt, wie dort des Großen Krieges gedacht wird. Zu ihrer Überraschung kam heraus, dass es in Afrika trotz der zwei Millionen Toten kaum Gedenkfeiern und wenig Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gibt. Für die Afrikaner war das „nur ein Krieg von vielen“, erklärte der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer dem Sender. Er reihe sich in die vielen Gräueltaten der kolonialen Eroberungen ein. Allein während der 75 Jahre der belgischen Herrschaft im Kongo kamen zehn Millionen Einheimische um. „Der Kolonialismus war so brutal“, so resümiert Zimmerer, dass selbst die gigantischen Opferzahlen des Ersten Weltkriegs „keine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“
Erhard Stackl, ehemaliger Chef vom Dienst bei der Tageszeitung Der Standard, lebt als freier Journalist und Autor in Wien.
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