Der Eintritt in den globalen Marktplatz fordert einen hohen kulturellen Preis. Bleibt von den Zivilisationen der Welt nur das Vermarktbare übrig? Ein Kommentar von Jeremy Seabrook
Nationale kulturelle Identitäten bleiben zwar weiterhin bestehen, aber unter dem Druck der internationalen Marktwirtschaft geraten sie zwangsläufig in Bewegung. Die Richtung ist immer die gleiche. So, wie die großen religiösen Feste in der christlichen Welt längst Anlaß für hemmungslose Konsumorgien geworden sind und Weihnachten den Marketingschwerpunkt des Jahres darstellt, werden ähnliche Tendenzen in anderen Kulturkreisen sichtbar. Der ursprüngliche Sinngehalt eines Festes wird von der überzogenen Betonung der Begleitzeremonie in den Hintergrund gerückt, der religiöse Aspekt von einem konsumorientierten abgelöst.
Wohl am deutlichsten ist diese sogenannte „Disneyfizierung der Kultur“ an der Vermarktung des kulturellen Erbes in Europa zu sehen. Einem Reisenden durch Westeuropa begegnen überall die gleichen Einkaufszentren mit Geschäften, die dieselben Markenprodukte feilbieten. Die markantesten Merkmale der Städte stammen aus der Vergangenheit, die ungeniert vermarktet wird: die mittelalterliche Kathedrale, der königliche Palast, die Stadtmauern. Die historischen Überreste werden konserviert und in Form von T-Shirts, bedruckten Krügen und Aschenbecher-Miniaturen verkauft.
Die Eigenständigkeit regionaler Kulturmerkmale wurde auf vermarktbare Klischees reduziert: Frankreichs Haute Cuisine, Spaniens Stierkampf und Italiens Leidenschaft für die Oper.
Ist das das Schicksal der großen Zivilisationen? Sind kulturelle Unterschiede nur mehr Ausdruck unterschiedlich weit gediehener Integration in den Weltmarkt?
Althergebrachte Traditionen werden durch die Marktkräfte nicht gleich ausradiert. Diese sind opportunistisch und setzten bei jenen gesellschaftlichen Bereichen an, in denen Geld verdient werden kann. In seiner ursprünglichsten Form zeigt sich dieses Phänomen daran, daß überall auf der Welt traditionell hergestellte, häusliche Gegenstände gegenüber Massenprodukten entwertet werden. Körbe aus Bambus und Stroh weichen knallroten Plastikeimern, Teller und Tassen aus Blättern werden durch Metall und Glas ersetzt, Colgate und Lux verdrängen Neemzweige und Seifenbeeren bei der Körperpflege, und die Früchte und Nüsse des Dschungels kommen jetzt von Cadbury und Nestlé.
Der Import kultureller Aktivitäten in Zusammenhang mit Vergnügen und Unterhaltung wirkt um einiges subtiler. Deren Inhalte richten sich vornehmlich an die Jugend. Eine neue Generation wird zu neuen Zielvorstellungen erzogen. Der Traum des Westens von einem Leben in Reichtum und Überfluß frißt sich langsam ins Bewußtsein von Völkern überall auf der Erde. Doch wer die süßen Früchte des Kapitalismus ernten möchte, muß auch seine harten Spielregeln akzeptieren.
Die Wunschwelt, die von Disney, Mattel oder Time-Warner in die Köpfe in der Dritten Welt gepflanzt wird, ist ein perfekt gestylter Mythos, ein Kunstprodukt US-amerikanischer Ideologie. Unter Menschen, die unter Armut und Instabilität leiden, nährt diese Ideologie die Bereitschaft, die Heimat zu verlassen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Ferne rückt zunehmend in den Mittelpunkt. Erfüllung wird nicht mehr gleichgesetzt mit der erfolgreichen Gestaltung des eigenen Lebens, sondern mit dem schemenhaften Ruhm der Stars aus den Film- und Popvideos.
Diese Tendenz höhlt den Glauben der Menschen an sich selbst aus und schmälert für sie den Wert ihrer eigenen Kulturleistungen.
Weltweit schwindet so die Bereitschaft, an tradierten und überlieferten Inhalten festzuhalten. Das ist der kulturelle Preis, den der Zutritt zur Marktwirtschaft der internationalen Gemeinschaft abverlangt.
Millionen junger AnwärterInnen hoffen derzeit von Dehli bis Săo Paulo auf das Erreichen eines MBA (Master in Business Administration) oder einen Abschluß in Wirtschaftswissenschaften. Die Riten der modernen Geschäftskultur haben sich wie ein irrationaler Kult in ganz Südasien verbreitet.
Dennoch ist klar, daß die große Mehrheit dieser hoffnungsvollen jungen Menschen keinen Platz im globalen System finden wird. Sie werden zu Opfern eines modischen Verführspiels aus dem Westen, dem es in den Fußstapfen des Kolonialismus gelungen ist, eine ganze Generation mit der Verheißung nicht vorhandener Karrierechancen und kaum je erzielbaren Wohlstandes einzufangen.
Jeremy Seabrook ist freier Mitarbeiter des New Internationalist und lebt als Journalist und Schriftsteller in London.
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