ťDie Vereinten Nationen waren naivŤ

Von Sven Hansen · · 2001/09

Sergio Vieira De Mello, UN-Verwalter für Osttimor, über die Arbeit der UNO und die Lage in Osttimor, das bereits im nächsten Frühjahr die Unabhängigkeit erlangen könnte. Das Gespräch führte

SÜDWIND: In Osttimor regiert die UNO zum ersten Mal ein ganzes Land – sie kontrolliert Exekutive, Legislative, Justiz und Militär. Ist Osttimor jetzt nach 400 Jahren portugiesischer Kolonialzeit und 24 Jahren indonesischer Besatzung eine Kolonie der UNO?

SERGIO VIEIRA DE MELLO: Natürlich gibt uns die UN-Resolution 1272 die volle Autorität in diesen drei Hauptbereichen der Macht, aber wir üben sie nicht auf neokoloniale Weise aus. Zum Beispiel haben wir bei der Exekutive die Struktur eines Kabinetts, in dem Osttimoresen fünf der neun Ressorts vorstehen. Nach den Wahlen vom 30. August werde ich die gesamte Exekutive in timoresische Hände legen.

Was die Legislative betrifft, so hatten wir zuerst einen Konsultativrat, der dann später vom Nationalrat abgelöst wurde. Er war nicht gewählt, sondern von mir ernannt – aber nach vielen Konsultationen mit Vertretern der osttimoresischen Zivilgesellschaft.

Die Justiz wollte ich von Anfang an ganz in die Hände von Einheimischen legen. Aber das war ein Fehler , denn die Osttimoresen haben keine Erfahrungen mit dem Gerichtswesen. Nach vielen Verzögerungen mussten wir schließlich ausländische Juristen holen, um die Osttimoresen zu auszubilden. Wir sind keine neokoloniale Macht, aber wenn wir zu lange bleiben, besteht die Gefahr, als fremde Macht gesehen zu werden.

Kann die UNO überhaupt eine nationale Regierung ersetzen?

Ja, die UNO kann ein Land regieren. Wir waren aber darauf nicht vorbereitet. Die einzigen Erfahrungen in dieser Richtung waren Namibia und Kambodscha, wo wir Ko-Verwalter für eine begrenzte Zeit waren.

Kosovo und Osttimor sind die ersten Fälle, in denen die UNO die gesamte Regierung stellt. Das Kosovo gehört allerdings laut UN-Resolution 1244 weiterhin zur Republik Jugoslawien und untersteht militärisch der NATO. In Osttimor dagegen hat die UNO die volle Hoheit.

Wir haben hier viele Fehler gemacht. Wir mussten improvisieren und haben viel Zeit verloren. Zum Beispiel: Als ich eintraf, hätte ich kleine Teams von Experten mit mir haben müssen für alle wichtigen öffentlichen Sektoren. Die hätten mir helfen können, einen neuen Zoll, Grenzschutz, ein Finanzministerium, eine Zentralbank oder eine zivile Luftfahrtbehörde, ein Hafenamt oder eine neue Justizverwaltung aufzubauen. Aber wir haben solche Leute in der UNO gar nicht.

Wenn wir also so etwas auch künftig machen wollen, müssen wir die gleiche Möglichkeit haben wie beim Militär: wir müssen auf Knopfdruck reagieren können und brauchen dafür zivile Ressourcen für Regierungszwecke. Das Fehlen dieser Ressourcen war meine Hauptschwäche in Osttimor.

Die UNO war also auf ihren Job gar nicht vorbereitet?

Im Fall des Kosovo wussten wir bis drei Tage vor Verabschiedung der Resolution nicht, dass wir von der UNO den Job übernehmen mussten. Denn da gab es noch Vorbehalte, ob die UNO überhaupt diese Rolle spielen sollte. Im Fall von Osttimor wussten wir, dass wenn die Mehrheit für die Unabhängigkeit stimmt, wir das Land zu verwalten hätten. Aber niemand in New York hat realisiert, was das hieß: Statt in einem völlig zerstörten Land anzufangen, hatten wir gedacht, die alte indonesische Provinzverwaltung einschließlich ihrer Beamten vorzufinden. Wir dachten, es wäre eine relativ einfache Aufgabe, wo wir nur Aufseher wären.

Wir hatten nie gedacht, dass alles vorher Existierende am Boden zerstört sein wird, dass Hunderttausende innerhalb Osttimors und nach Westtimor vertrieben werden, dass die öffentliche Verwaltung zusammenbricht und praktisch verschwindet. Weil wir uns das Ausmaß unserer Aufgabe gar nicht vorstellen konnten, waren wir auch nicht darauf vorbereitet..

Hat die UNO sich als naiv erwiesen, als dann das schlimmste Szenario tatsächlich eintrat?

Der Generalsekretär hat anschließend selbst gesagt, wir sollten immer aufs schlimmste Szenario vorbereitet sein und das beste Szenario als Bonus betrachten, aber eben nie sein Eintreten erwarten. Ja, wir waren naiv.

Ihrer UN-Verwaltung für Osttimor (Untaet) wird sowohl vorgeworfen, zu wenig die Einheimischen zu konsultieren, als auch zu langsam zu arbeiten.

Das stimmt. Es hat uns zum Beispiel mehrere Monate gekostet, Gesetzesentwürfe für eine Wahrheits- und Versöhnungskommission vorzubereiten. Wir wollten dabei den Wünschen und Vorstellungen der Osttimoresen entsprechen. Das bedurfte monatelanger Konsultationen. Wir haben das Gesetz schließlich formuliert und an den Nationalrat geschickt, wo es erstmal feststeckte. Es ist wirklich eine paradoxe Tatsache: Wer konsultiert, verlangsamt.

Das ist aber nicht der einzige Grund, warum wir langsam waren. Beim Wiederaufbau zum Beispiel begannen die Projekte des von der Weltbank verwalteten Fonds sehr langsam. Denn wir mussten erst eine Verwaltungsstruktur aufbauen, die die Dutzenden Millionen von Dollar für die Projekte in den Bereichen wie Gesundheit, Wirtschaft und Kultur überhaupt verwalten und abrechnen kann und über Kontrollmechanismen gegen Korruption verfügt.

Es gibt ein großes Potenzial für Unzufriedenheit in Osttimor, und es gab schon Unruhen wie im März, als in Bacau eine Moschee angezündet, UN-Personal angegriffen und UN-Fahrzeuge angezündet wurden. Was steckt dahinter?

Zählt man die Zahl der Zwischenfälle und Opfer der vergangenen 18 Monate, würde ich wetten, dass die Kriminalitätsrate in Osttimor niedriger ist als in Deutschland. Wir sollten nichts dramatisieren. Es gibt zwei Arten der Kriminalität: Eine wachsende Kleinkriminalität und politische Kriminalität. Letztere beunruhigt mich mehr. Die Entwicklung der Kleinkriminalität stabilisiert sich, wenn die Wirtschaft sich erholt. Die politische Kriminalität dagegen wird geschürt von einer kleinen Gruppe von Agitatoren mit ultranationalistischer Rhetorik, die aber alle die Integration mit Indonesien bei der Volksabstimmung 1999 unterstützt haben.

Erhält Osttimor genug internationale Unterstützung?

Wir können noch zusätzliches Geld gebrauchen, aber wichtiger noch ist die einhellige politische und diplomatische Unterstützung, die wir bekommen. Ich sage den Timoresen immer, dass wir erkennen sollen, wie privilegiert wir sind. Denn keine bisherige UN-Mission hat so breite internationale Unterstützung bekommen. Das ist wohl das größte Kapital, das wir haben und das wir nicht gefährden sollten.

In der Frage eines Tribunals sieht es so aus, dass die Staatengemeinschaft der indonesischen Regierung zunächst ermöglichen will, die Verantwortlichen selbst zur Rechenschaft zu ziehen, die indonesische Regierung aber sehr zögerlich ist. Was ist Ihre Position?

Die von der UNO entsandten Juristen empfahlen im Dezember 1999 die Einrichtung einer internationalen Rechtssprechung für Osttimor, aber nicht die Einrichtung eines vollen UN-Tribunals wie für Ruanda oder Ex-Jugoslawien. Der UN-Generalsekretär und der UN-Sicherheitsrat beschlossen dann, dies ruhen zu lassen – also nicht es zurückzuweisen, sondern den Indonesiern eine Chance zu geben. Es ist immer besser, zuerst auf nationaler Ebene Recht zu sprechen, als ein internationales Gremium zu schaffen. Das sollte die letzte Möglichkeit sein.

Es gibt immer noch bis zu 100.000 osttimoresische Flüchtlinge in Westtimor. Sie mussten von der UNO verlassen werden, nachdem UN-Mitarbeiter in Westtimor getötet wurden. Warum sind bis heute alle Versuche gescheitert, diesen Flüchtlingen die Rückkehr nach Osttimor zu ermöglichen?

180.000 Flüchtlinge sind bereits zurückgekehrt. Nach unseren Schätzungen befinden sich noch 60 bis 70.000 Flüchtlinge in Westtimor. Indonesiens Regierung hat zugesagt, Anfang Juni mit ihrer Registrierung zu beginnen. Das gibt uns die Möglichkeit zu wissen, wie viele es sind und was sie wollen. Dass sie bisher nicht zurückkehrten, hat viele Gründe. Vor allem die Desinformation und Einschüchterung durch die proindonesischen Milizen. Auch gibt es Befürchtungen, es könnte im Zusammenhang mit den Wahlen zu neuer Gewalt durch Unterstützerder Integration mit Indonesien kommen.

Wann wird Osttimor ein unabhängiger Staat?

Wenn wir den Zeitplan einhalten – Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 30. August, ihre Konstituierung am 15. September, Ausarbeitung der Verfassung in drei Monaten und Präsidentschaftswahlen etwa im Februar – dann kann danach die UNO ihre Fahne einholen und die Unabhängigkeit erklärt werden. Aber danach sollten wir uns dennoch nicht sofort zurückziehen wie in anderen Fällen.


Zur Person

Sergio Vieira De Mello wurde im November 1999 zum Leiter der UN-Verwaltung für Osttimor ernannt. Der brasilianische Diplomat ist promovierter Philosoph und einer der ranghöchsten UN-Funktionäre. Er arbeitete in den 70er Jahren für das UN-Flüchtlingshilfswerk in Peru und Bangladesch und später im Libanon. Nach dem Völkermord in Ruanda war er humanitärer Koordinator für die Region der Großen Seen in Ostafrika.

S.H.


Blutiger Weg zur Unabhängigkeit

Die nach der Nelkenrevolution in Portugal überhastet für unabhängig erklärte südostasiatische Kolonie Osttimor wurde im Dezember 1975 von Indonesien besetzt. Nach Jahren blutiger Unterdrückung mit rund 200.000 Toten bei nur geringer internationaler Empörung ließ Indonesien im August 1999 eine von der UNO durchgeführte Volksabstimmung zu. Dabei entschieden sich knapp 80 Prozent für die Unabhängigkeit.

Im Anschluss verwüsteten proindonesische Milizen die Inselhälfte. Mindestens 1.500 Menschen kamen dabei ums Leben, Hunderttausende flohen in die Berge oder ins indonesische Westtimor.

Eine von Australien geführte internationale Friedenstruppe konnte den Terror im Oktober 1999 beenden und wurde später in eine der UN-Übergangsverwaltung (UNTAET) unterstellte Friedenstruppe umgewandelt, die 10.500 Soldaten und Polizisten aus 30 Ländern umfasst. Für den 30. August sind Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung vorgesehen.

S.H.


Osttimor-Gerichtshof wird eingerichtet

Die neue indonesische Präsidentin Megawati hat bekräftigt, was ihr Vorgänger Wahid verfügt hatte: Das Sondergericht zur Ahndung der schweren Menschenrechtsverletzungen in Osttimor wird eingerichtet. Gegenwärtig werden gerade die Richter ausgebildet – einige in Holland und Australien, andere bei der indonesischen Nationalen Kommission für Menschenrechte.

Die offizielle Konstituierung ist für Oktober geplant, nach ein paar Monaten Vorbereitung sollen dann die Verfahren beginnen.

Mit der Einrichtung des Tribunals wurde der Verfassungsrichter Benjamin Mangkoedilaga betraut. Nach den Massakern der indonesischen Soldaten und ihrer Handlanger, der osttimoresischen Milizen, weilte Mangkoedilaga als Mitglied einer Menschenrechtskommission vor Ort. Er und seine Richterkollegen rechnen bereits jetzt mit starkem Druck der Militärs. Hohe Offiziere der indonesischen Armee werden sich für die Planung und Umsetzung des Massenmords vor dem Gericht verantworten müssen.

red


Sven Hansen ist Asienredakteur der Berliner Tageszeitung „taz“.

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