Wir durchleben endlose Tage, an denen die Stromversorgung, das Fließwasser, Telefon- und andere Verbindungen gekappt sind. Das Wichtigste ist, dass wir noch am Leben sind. Ein nicht enden wollendes Chaos aus Angst, Terror und Dunkelheit, vom schwarzen Rauch, der uns entgegenströmt, wenn wir unsere Fenster am Morgen öffnen, bis zur Finsternis der Nacht, die jeden Abend mit dem Dröhnen von Bombenangriffen beginnt, das uns so vertraut geworden ist. … Die Menschen flüchten nach und von Bagdad. Wir wissen nicht, wann der Knockoutschlag kommen wird.“
„Es regnet Bomben. Sie können sich nicht vorstellen, was wir durchmachen. Ein schwarzer Regen bedeckt die Gärten, die Straßen und die Hausdächer … er macht die Tage hässlicher als die Nächte. Wegen des Wirtschaftsembargos haben wir uns die Haare kurz geschnitten, um Seife und Wasser zu sparen. … So viele Menschen sterben an Herzattacken, die sie infolge dieser ständigen Angst erleiden. Frauen beten zu Gott: ‚Nimm uns im Tod nicht unsere Ehre‘ …“
„Unsere Kinder … können nicht mehr richtig schlafen. Ihre Gedanken sind erfüllt von gewaltsamen Bildern des Krieges in Schwarz und Rot. Albträume erschüttern ihre Betten mit dem Dröhnen von Bomben und Luftangriffen …“
Diese drei Passagen entstammen drei Briefen aus der irakischen Hauptstadt. Geschrieben wurden sie nicht während des Kriegs, den die USA im März dieses Jahres gegen den Irak lostraten, sondern während des Golfkriegs Anfang der 90er Jahre. Entnommen sind sie einem Roman (Betool Khedairi: A Sky so Close; Anchor Books, New York 2002) über Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden im Irak, der sich ebenso wenig als Kriegsbericht versteht wie als Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte des Landes. Nicht ein einziges Mal fällt auf den mehr als 200 Seiten der Name Saddam Hussein oder der Begriff Diktatur – Worte, die die Autorin Betool Khedairi auch im Interview vermeidet.
Vordergründig erklärt sich diese Haltung aus dem Versprechen, das Khedairi, wie sie betont, ihrem verstorbenen Vater gab, niemals über Politik zu sprechen. „Er war ein Mann, der daran glaubte, Länder aufzubauen, nicht zu zerstören.“ Doch in den nachfolgenden Sätzen bringt Khedairi ihre tiefe Skepsis gegenüber den tatsächlichen Motiven und Zielen politischen Handelns zum Ausdruck. „Es gibt so viele verborgene Wahrheiten, die wir niemals erfahren werden. Die Politik, die ich verstehe, ist die der Nächstenliebe. … Der Irak in meinem Werk ist der menschliche Irak, nicht jener der Schlagzeilen. Die Weltpolitik bestimmt das Geschehen ungeachtet der Stimmen auf der Straße, der internationalen Resolutionen oder des Schmerzes der angegriffenen Menschen. Mein Land blutet. Ich werde keine negativen Aussagen abgeben, nur um zu beweisen, dass ich eine liberale Intellektuelle bin. Ich suche nach Fairness inmitten dieses Chaos“, sagt Khedairi und verweigert Antworten auf Fragen zum Danach und zur Neuordnung des Irak.
Weder die Überlegungen der großen Kommentatoren und Analysten, noch die Szenarien, die sie damals für die Zukunft des Nahen Ostens entwarfen, veranlassten Khedairi, Anfang der 90er Jahre zunächst in Bagdad und dann in London zur Feder zu greifen. Sie begann zu schreiben, „um mein Gleichgewicht zu wahren“. Ihr irakischer Vater war verunglückt, der Golfkrieg hatte begonnen, und Khedairi war mit ihrer aus Schottland gebürtigen Mutter in die britische Hauptstadt gezogen, damit diese sich dort einer Krebsbehandlung unterziehen konnte. Khedairi lebte, wie sie sagt, „in völliger Entfremdung“.
Im britischen Fernsehen verfolgte sie die westliche Kriegsberichterstattung. Aus ihrer Heimat erhielt sie Briefe, die ihr das Leben aus der Sicht der Menschen vermittelten.
Die „diversen Ideen, Skizzen aus der Kindheit, imaginären Dialoge und Charaktere, die sich an lebenden Personen inspirierten“, die Khedairi damals verfasste, fügten sich langsam zu dem stark von ihren eigenen Erfahrungen beeinflussten Roman „A Sky So Close“ (Ein Himmel so nah). 1999 erschien das Werk auf Arabisch im Libanon, später in englischer Übersetzung in den USA, wo es, wie generell im angelsächsischen Raum, auf beträchtliches Interesse stieß. Nun sind weitere Übersetzungen geplant.
Khedairi selbst ist heute gefragte Teilnehmerin an Seminaren, Tagungen und Lesungen zum Irak, den allein sie als ihre Heimat betrachtet, auch wenn die heute 37-jährige sich nach dem Tod der Mutter vorerst einmal in Amman niedergelassen hat und nur gelegentlich nach Bagdad reist.
„Ich verließ Bagdad, aber es hat mich nie verlassen. Ich trage es in mir wie einen Kompass. Es ist mein Geburtsort, meine Kindheit, meine Erziehung. Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze und schreibe, führe ich einen zauberhaften Dialog mit meiner alten Zivilisation. Sie ist sechstausend oder mehr Jahre alt und inspiriert mich noch immer. Es stimmt mich sehr traurig, sie in den Letzten 25 Jahren drei Kriege durchmachen zu sehen. Bagdad ist für mich der Brennpunkt“, weist Khedairi wiederum, wie auf praktisch alle Fragen, die man ihr stellt, in einen Bereich jenseits politischer Regime und Systemdebatten.
Wesentlich schwerer tut sie sich damit, die Essenz ihres Lebens mit Eltern aus verschiedenen Kulturkreisen in Worte zu fassen. „Sie verlangen von mir, einen Ozean in einen Wassertropfen zu komprimieren“, erwidert sie und verweist auf ihr Buch: „Der Roman handelt von diesen Unterschieden. Ich finde es faszinierend, einmal in die eine, dann in die andere Kultur einzutauchen, um die eigenen Dimensionen zu erkunden: Ambitionen und Grenzen zur gleichen Zeit. Positives und Negatives aus beiden Welten vermengen sich zu einer offenen, toleranten Gesinnung, die annimmt und verzeiht. Das ist es, was ich durch mein Schreiben gelernt habe, in dem ich mit meinen Worten als Übersetzerin für beide Kulturen arbeite“, sagt Khedairi und fügt hinzu: „Wenn wir bloß Brücken zwischen Ost und West errichten könnten, anstatt die Unterschiede zu bekämpfen, vielleicht könnten wir dann einen Schritt näher an einen friedlichen Planeten gelangen.“
Auch die Protagonistin des Buches hat einen irakischen Vater und eine britische Mutter und wächst mit deren Konflikten und Unvereinbarkeiten auf. Ob es um Hygiene oder Muttersprache geht, um geeignete Spielkameraden oder die passende Schule, um Essensgewohnheiten oder Lebensrhythmus, um die Welt der Fantasie oder jene alltäglicher Verpflichtungen, überall treten Bruchlinien zutage. Doch als der Vater eines Tages seiner halbwüchsigen Tochter erklärt, es gäbe etwas „sehr Wichtiges, das du wissen musst“, bestätigt er nicht ihre sofortige Vermutung, „Ihr lässt euch scheiden?“ Seine Antwort lautet: „Nein, ein Krieg mit dem Iran hat begonnen.“
Diesen Krieg mit dem Nachbarn erlebt die Protagonistin des Romans – wie Khedairi selbst – vor Ort mit. Den ersten Golfkrieg erleben beide in London, wo Khedairi, wie die Hauptperson ihres Romans, Briefe von der eingangs zitierten Art aus Bagdad erhält. Das Buch schließt kurz nach dem Tod der Mutter, als „die Ereignisse in meiner Heimat von den Radiostationen der Welt nicht mehr als nachrichtenwürdig betrachtet werden“. Die Protagonistin erinnert sich an das letzte Telefonat mit ihrer Freundin in Bagdad, in dem diese die Ansicht eines gemeinsamen Bekannten, Farouk, zu den Sanktionen zitierte: „Wir essen Scheiße mit einer Nadel; die Nadel klaubt nichts auf, und der Berg Scheiße wird nicht kleiner!“
Das Leben der Menschen im Irak unter den Sanktionen ist das Thema von Khedairis zweitem Roman, den sie vor kurzem fertig gestellt hat und der noch in diesem Jahr auf Arabisch wie auf Englisch erscheinen soll. Wie wird der Irak, wie wird die Welt dann aussehen? Von Brückenbauen hat Khedairi zuvor gesprochen, der jüngste Krieg kann ihrer Ansicht nach nur noch mehr Brücken zerstören. „Die schrecklichen Szenen des Krieges betäuben mich“, sagt Khedairi und beschreibt ein Bild aus den ersten Kriegstagen, das die jordanischen Zeitungen auf den Titelseiten brachten und das sich ihr unauslöschlich eingeprägt hat: Ein Bub mit einem von einem Geschoss gespaltenen Schädel, „seine Augen halb geschlossen, wie wenn kleine Buben auf der Couch am Einschlafen sind. Dieser lag auf dem Straßenpflaster; was von seinem Kopf übrig war, sah aus wie eine bedruckte Halloweenmaske. Minuten zuvor war es das Gesicht eines kleinen Jungen gewesen.“