Die Unterdrückten auf der Bühne

Von Birgit Fritz · · 2008/10

Jana Sanskriti – The People’s Culture: Eine Theaterbewegung wird zur Massenbewegung von Kolkata (früher Kalkutta) in Westbengalen über die ganze Welt. Geburtshelfer war Augusto Boal.

Nicht der Mangel an Wünschen, sondern der Mangel an Mut ist das Problem!“, sagt Sanjoy Ganguly, Mitgründer und Leiter von Jana Sanskriti (übersetzt etwa: Volkskultur) über die Situation, in der er und seine Gruppe arbeiten. Gegründet 1985, waren Sanjoy Ganguly und seine MitarbeiterInnen bis 1991 eine Propagandatheatergruppe. Als ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei Westbengalens – die am längsten regierende demokratisch gewählte kommunistische Partei der Welt (seit 1977) – wollten sie die sozialen Umstände ihrer Region verändern. Doch die SlumbewohnerInnen Kolkatas schickten die Theaterleute in die Dörfer, um dort den Problemen auf den Grund zu gehen. Innerhalb der Gruppe gab es Hierarchien; den ZuschauerInnen wurden Ratschläge erteilt. Wie in allen Bereichen der Gesellschaft gab es eine Kultur des Monologs, es gab keinen Raum, in dem man debattieren konnte. „Aber wir mussten zur Kenntnis nehmen und würdigen, dass jeder Mensch seine intellektuellen Fähigkeiten nutzen, eine kritische Haltung entwickeln und an gesellschaftlichen Entwicklungen teilnehmen kann.“ 1991 stieß die Gruppe auf das Theater der Unterdrückten von Augusto Boal (siehe SWM 5/08), und seit damals betrachten sie es als ihre Waffe im Ringen um soziale Gerechtigkeit.
Seit 1991 hat sich vieles verändert. Jana Sanskriti entwickelte sich zu einem über 1.600 Personen starken Theaternetzwerk, das in zehn indischen Bundesstaaten tätig ist. Das Kernteam um Sanjoy Ganguly und seine Frau Sima besteht aus zwölf Personen, die mittlerweile alle Familie haben. Sie leben in Badu bei Kolkata im Kollektiv und teilen sich ihre Einnahmen, auch die von Sanjoys internationalen Workshops, nach der Zahl der Familienmitglieder auf. „Wir haben nur ein Kind“, sagt Sanjoy, „wir brauchen also weniger als die anderen.“ Die Teams in den Bundesstaaten sind autonom organisiert und vernetzen sich mit dem Kernteam nach Bedarf, z.B. um gemeinsame Protestaktionen durchzuführen und Fortbildungen zu organisieren. Die Bewegung wird auch von vielen indischen Intellektuellen, Ärztinnen und Juristen unterstützt.

Über die Jahre entwickelte Jana Sanskriti eigene ästhetische Mittel, Tänze, Lieder, Kostüme und eine starke Bildersprache. Eine wichtige Basis ist die lokale Volkskunst. Fast jährlich gibt es indische Forumtheaterfestivals, bei denen sich die Gruppen treffen und vor einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren. Die Menschenrechtsaktivistin Medha Patkar eröffnete im Oktober 2006 das bisher größte Festival gemeinsam mit Augusto Boal, an dem über 10.000 Menschen, 70 Prozent davon Frauen, teilnahmen. Der Medienansturm war enorm. Jana Sanskriti ist mittlerweile eine starke gesellschaftliche Kraft, die die Politik vielerorts zur Kenntnis nehmen muss.
Was sind die Arbeitsprinzipien der Organisation? In einem Brief von 1985 schreibt Sanjoy Ganguly: „Ich wusste immer schon, dass in der Dialektik zwischen unlösbaren Problemen auf der einen und dem Versuch, sie zu überwinden, auf der anderen Seite der Schlüssel zur menschlichen Entwicklung liegt.“
Doch wie diese Menschlichkeit finden, wo den Raum schaffen, der ihr Wachstum ermöglicht? Indem das Theater der Unterdrückten sehr konkrete Konflikte zeigt, die jeder Mensch nachvollziehen kann und durch die man letztendlich auch die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge verstehen kann, schafft es eben diesen Raum, in dem sich jeder Mensch als intellektuelles Wesen und als Expertin, als Fachmann der eigenen Situation wahrnehmen kann.
Am Wichtigsten ist die Einstellung, mit der man arbeitet. „Es gibt die Tendenz, das Theater der Unterdrückten zu einem Profilierungsinstrument elitärer Gruppen zu machen. Dem müssen wir entgegentreten, indem wir mit Aktivistengruppen und Initiativen zusammenarbeiten, um wahres Theater für soziale Veränderung zu machen“, erklärt Sujoy Ganguly, der Sohn.
Auch Ästhetik ist ein Instrument der herrschenden Klassen, wie wir in unserem Kulturraum schmerzhaft in Erinnerung haben. Alle Menschen als KünstlerInnen wahrzunehmen ist deshalb ein kraftvolles Statement. Vor allem wird dadurch die Kreativität der Einzelnen gefördert, die Schaffenskraft, die man braucht, um neue Formen des Zusammenlebens zu gestalten und an sie glauben zu können.

Solidarität als ethisches Prinzip. Jana Sanskriti baut mit den Gruppen, mit denen sie arbeitet, eine solidarische Beziehung auf. Und letztendlich versteht sich Jana Sanskriti schon lange nicht mehr als Theatergruppe, sondern als Theaterbewegung. Die während des großen Festivals im Oktober 2006 gegründete „Indian Federal Organisation of the Theatre of the Oppressed“ (IFOT) legt in ihren Statuten unter anderem fest: „Diese Organisation (…) wird gegen alle Formen des Fundamentalismus kämpfen, sei er religiös oder politisch. Sie wird sich auf allen Ebenen der Gesellschaft gegen die Kultur des Monologs stellen. Sie wird immer für die Auseinandersetzung und gegen Dogmatismus eintreten.“
Die „Internationale“ des Theaters der Unterdrückten zählt zu ihren Mitgliedern 32 große indische BürgerInneninitiativen aus zwölf verschiedenen Bundesstaaten. 300 Delegierte sowie internationale Gäste aus 14 Ländern, darunter auch aus Österreich, waren bei der Gründung anwesend.
„Der bedrohteste Mensch in Indien ist der einfache Landarbeiter“, meinte Sanjoy Ganguly 2007 bei einem Besuch in Wien.

Die Themen, die die Theatergruppen in ihren Aufführungen behandeln, sind immer ein Kampf gegen ausweglos scheinende Unterdrückung. Gemeinsam mit dem Publikum suchen sie nach Lösungen. Oft werden die Stücke dutzende Male vor demselben Publikum gespielt, und immer, wenn die Gruppen nach ein paar Wochen in die Dörfer zurückkommen, geht die Diskussion mit dem Publikum auf einer anderen Ebene weiter. Haben sie sich schon organisiert? Mit welchen Problemen wurden sie nun konfrontiert? Nicht selten bleiben die TheateraktivistInnen auch in den Dörfern, um die BewohnerInnen in ihren Anliegen zu unterstützen.
Wenn die Weltpolitik immer mehr zum Theater „verkommt“ und sich den Menschen gegenüber nicht mehr rechenschaftspflichtig fühlt, spätestens dann muss Theater Politik machen. Das ist das Theater der Unterdrückten. Die Themen, die angesprochen werden, sind sehr unterschiedlich. In letzter Zeit steht die neoliberale Globalisierung mit ihren Auswirkungen an vorderster Stelle. Sowohl die Landaneignungen (in Anwendung des britischen Landaneignungsgesetzes von 1894) für multinationale Konzerne und Freihandelszonen durch die indische Regierung gegen den Willen der Bauern und Bäuerinnen als auch der Umgang mit Ressourcen wie Elektrizität und Wasser, die teilweise der Industrie kostenlos zur Verfügung gestellt werden, während die Landbevölkerung ihre Lebensgrundlage verliert, werden diskutiert. Ist es Fortschritt oder Zerstörung, wenn Einkaufszentren und Vergnügungshallen von Grundstücksspekulanten gebaut werden und die Armen immer ärmer werden und Land und Boden verlieren?
Alkoholismus, Korruption, das Patriarchat, Manipulationen innerhalb der Parteien, religiös bedingte Konflikte, die gesundheitliche Versorgung und Bildung sind weitere wichtige Themen für die Theaterbewegung.

Durch die steigende internationale Beteiligung an den indischen Festivals, in deren Rahmen auch immer Workshops gehalten werden, ist Jana Sanskriti mittlerweile weltweit fast allen PraktikerInnen des Theaters der Unterdrückten (TdU) ein Begriff. Das Kernteam um Sanjoy und Sima Ganguly wird zu Festivals und Workshops in der ganzen Welt eingeladen, im Juni dieses Jahres waren sie zu Gast beim Forumtheaterfestival in Pula, Kroatien. Über ihre Arbeit wurden zwei Filme gemacht, „Playing for Change“ von Gautam Bose und „A Theatre in the Field“ von Jeanne Dosse.
Jana Sanskriti und Sanjoy Ganguly als Integrationsfigur bringen die internationale Bewegung des Theaters der Unterdrückten wieder zurück zu ihren Wurzeln. Theater, das von den Menschen ausgeht. Volks-Theater im wahrsten Sinn. Humanisierung der Menschheit als Ziel, wie es in der Grundsatzerklärung des Theaters der Unterdrückten heißt. Lernen im Dialog, basierend auf der Pädagogik des großen brasilianischen Pädagogen Paulo Freire. Und Solidarität als anzustrebendes Arbeitsprinzip. In einer Welt voller Widersprüche wird Jana Sanskritis Kernteam im Oktober 2009 zu Gast beim Weltforumtheaterfestival in Österreich sein. Von 24. November bis 16. Dezember findet das diesjährige Festival in Kolkata statt.


Die Autorin ist Mitgründerin des TdU-Wien und Lektorin für transkulturelle Theaterarbeit am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien. Sie hat seit 2005 mit Sanjoy Ganguly sowohl in Österreich als auch in Indien und Kirgistan gearbeitet.

Mehr Informationen unter
www.arge-forumtheater.at und www.janasanskriti.org sowie unter www.theatreoftheoppressed.org
Das TdU-Wien ist an dem Aufbau eines internationalen UnterstützerInnennetzes für Jana Sanskriti beteiligt. Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten unter www.tdu-wien.at

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