Welche Rolle Tätowierungen weltweit und seit jeher in der Geschichte der Menschheit spielen, analysiert Igor Eberhard.
„Ornament ist Verbrechen“, schrieb der Wiener Architekt und Kulturpublizist Adolf Loos 1908 in seiner provokanten Streitschrift „Ornament und Verbrechen“ und fasste darin auch die gängigen Vorurteile über Tätowierte pointiert zusammen: „Der papua tätowiert seine haut, sein boot, seine ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein verbrecher. Der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter.“
Ornamente auf dem eigenen Körper seien degeneriert, atavistisch, pervers und krank. So oder ähnlich dachte über viele Jahrhunderte die breite Masse der westlichen Gesellschaften, obwohl gerade Ende des 19. Jahrhunderts das Tätowieren in der Oberschicht, bei Reichen und Adeligen en vogue geworden war. Die englischen Könige Edward VI. und VII., der Dänen-König Frederick oder auch die österreichische Kaiserin Sisi und der britische Premierminister Winston Churchill ließen sich per Hand oder mit gerade erfundenen elektrischen Maschinen tätowieren.
Am unteren Ende der Gesellschaftspyramide waren es vor allem Seeleute, Soldaten, UnterhalterInnen und ArbeiterInnen, die sich Tattoos – der Begriff ist mittlerweile aus dem Englischen ins Deutsche übernommen worden – stechen ließen.
Äußere Anzeichen. Cesare Lombroso (1835-1909), ein italienischer Arzt und einer der Gründerväter der Kriminologie, wollte mit seinen Untersuchungen an italienischen Sträflingen und Prostituierten beweisen, dass es äußere Körpermerkmale gibt, die auf eine psychologische Verbrechernatur hinwiesen. Tätowierungen waren für ihn ein deutliches Anzeichen. Seine und ähnliche Thesen waren von Anfang an umstritten, aber sie wirkten nach: Die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ berief sich, unter anderem, auf seine Theorien.
Heutzutage gelten Tätowierte weitgehend nicht mehr als degeneriert, psychopathisch oder abnorm. Aber es gibt immer noch WissenschafterInnen, wie etwa der in Fachkreisen viel zititierte Nicolas Guéguen, Professor für Sozialpsychologie an der Universität der Südbretagne, die ihnen „risikofreudigeres Verhalten“, etwa ungeschützten Geschlechtsverkehr oder Drogenmissbrauch zuschreiben.
Vor allem stärker Tätowierte gelten auch heute in den Augen so mancher als ungesünder, unsympathischer oder unattraktiver.
Die Tatsache aber, dass sich immer mehr Menschen tätowieren lassen und auch in der Werbung immer öfter tätowierte Models eingesetzt werden, zeigt eine veränderte, nun weitgehend positive Einstellung in der Gesellschaft. In Europa – Österreich liegt schätzunsgweise im Mittelfeld– ist heute fast ein Fünftel der Menschen tätowiert, davon fast genausoviele Frauen wie Männer.
Lange Geschichte. Dabei sind Tätowierungen seit jeher in fast allen Kulturen der Welt verbreitet. Wahrscheinlich sind sie eine der ältesten kulturellen Erfindungen der Menschheit. Die ersten Tätowierungen haben sich parallel zur darstellenden Kunst entwickelt, als die Menschen sesshaft wurden. Geschätzte 30.000 Jahre alte Höhlenmalereien in Grönland sollen bereits tätowierte Menschen zeigen. Von Ägypten, Sibirien, Grönland und einigen anderen Ländern bis zum Amazonas hin wurden Spuren von Tätowierungen auf Mumien gefunden, die bis ca. 1500 v. Chr. zurückdatieren und davon zeugen, dass Tätowierungen weltweit verbreitet waren.
Auch in den heimischen Gefilden waren sie zu finden: „Ötzi“ aus den Stubaier Alpen ist noch immer die weltweit bekannteste und mit 5.000 Jahren auch die älteste in Europa gefundene Mumie. Auch die Anzahl der Tätowierungen Ötzis ist rekordverdächtig: Am ganzen Körper wurden 61 tätowierte Striche und Kreuze gefunden, die vermutlich aus medizinischen Gründen angebracht wurden.
Tattoo-Geschichten
Durch die Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts, unter anderem von James Cook, drangen Tätowierungen in Europa allmählich wieder ins öffentliche Bewusstsein, nachdem sie jahrhundertelang ins kollektive Vergessen geraten waren. Vor allem Cook hatte einen großen Einfluss auf die Tattoo-Geschichte. Er brachte Omai, einen tätowierten Indigenen von Raiatea, einem Teil der heutigen Gesellschaftsinseln, nach Europa. Er wurde schnell zu einer exotischen Berühmtheit. Andere Individuen hatten eine ähnliche Wirkung:
Prince Jeoly, der schon 1691 vom britischen Seefahrer William Dampier von den Molukken nach London gebracht wurde, oder Ahutoru, ein Tahitianer, der 1769 mit dem Offizier Louis Antoine de Bougainville nach Frankreich gekommen war, dienten als menschliche Souvenirs aus weit entfernten Welten und begeisterten die Menschen in Europa.
Ihre Auftritte in wissenschaftlichen Stuben, an Adelshöfen oder auf Jahrmärkten waren Ereignisse, die Schaulustige aus allen Schichten in Scharen anzogen und Geld in die Kassen von Geschäftemachern brachten. Schon bald entdeckten europäische gestrandete Matrosen, entflohene Sträflinge oder Deserteure die Tätowierung als Geldquelle – sie ließen sich in Europa aufwändig tätowieren. Dann behaupteten sie, bei ihren Exkursionen von Indigenen zwangstätowiert worden zu sein und arbeiteten als Schausteller.
Besonders bekannt wurde Captain Costentenus, ein griechischstämmiger Albaner, der der „Tätowierte von Birma“ genannt wurde, weil er behauptete, dort tätowiert worden zu sein. Er galt in der ersten Häfte des 19. Jahrhunderts als „meistttätowierter Mensch“ der Welt. I.E.
Soziale Marker. Universal ist und war wohl das dem Menschen inhärente Bedürfnis, den Körper zu verändern. Tattoos dienten und dienen dazu, sozialen Status festzuschreiben, sich von anderen Gruppen oder Personen abzugrenzen. Zeitweise markierten sie Besitztum – die Römer etwa brachten unlöschbare Zeichen unter die Haut ihrer SklavInnen. Andere Gesellschaften tätowierten sichtbare Hinweise auf die persönliche Leistung, Biografie, oder Religion oder individuelle und familiäre Abstammung. Für Letzteres sind zum Beispiel die Gesichtstätowierungen der Maori in Neuseeland bekannt. Tattoos können aber auch bei Banden – einst wie heute, beispielsweise bei den Maras (siehe Seite 32) – dazu dienen, GegnerInnen Angst einzuflößen.
Bei den Indigenen Borneos (siehe Seite 34) etwa wurden sie beim Übergangsritus vom Kindes- zum Erwachsenenalter angebracht. Der Schmerz und begleitenden Riten beim Tätowiervorgang sollten bereit machen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Die erste Menstruation oder das erste erlegte Tier, der erste getötete Feind etc. waren andere, häufige Anlässe.
Tätowierungen sollten und sollen auch heutzutage schützen – ihre TrägerInnen vor sich selbst, wenn Erinnerungen an Ereignisse in den Leib eingeschrieben werden, oder vor spirituellen Mächten, etwa Dämonen. Sie verbinden den Menschen mit seinem Glauben. Die Kraft des Bildes soll sich, wie bei einem Amulett oder Ähnlichem, übertragen. Tattoo-Therapie. Tattoos waren überdies auch physische Medizin und Therapie.
Die schon erwähnte Gletschermumie Ötzi litt an Arthrose und war an entsprechenden Akupunkturpunkten tätowiert. Vergleichbare Zeichen weisen andere Mumien auf, die von Sibirien bis Chile gefunden wurden. Bis vor einigen Jahren etwa setzten Indigene auf der Sankt-Lorenz-Insel in der Beringsee ähnliche Tattootechniken zur Heilung ein. Auch in der westlichen Medizin gibt es mittlerweile Versuche und Berichte von diesbezüglichen Erfolgen. Die wissenschaftlichen Beweise für die physische Wirkung sind aber noch umstritten.
PatientInnen berichten nach schweren Verlusten, großen Verletzungen, Brustkrebs-Operationen oder Amputationen etc. von therapeutischen und psychologischen Wirkungen von Tattoos als Teil der Traumabewältigung. Der US-amerikanische Tätowierer David Allen etwa tätowiert aus therapeutischen Gründen Brustkrebs-Patientinnen nach einer Masektomie botanische Motive und dokumentierte die äußerst positiven Effekte dieser Arbeiten im „Journal of the American Medical Association“.
Tätowierungen können dazu beitragen, sich besser zu fühlen – als kosmetische Dekoration, ästhetischer Schmuck, Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit, Rebellion oder extravagantes Kunstwerk. Wer sich in seinem Körper wohl fühlt, hat ein positiveres Selbstbild.
Handwerkskunst. In vielen Kulturen, aber auch schon bei den ersten Mumienfunden waren dekorative Tätowierungen mit Figuren und reinen Ornamenten gemischt. Je nach Tattoo und TätowiererInnen wurden sie mit unterschiedlichen Techniken und Materialien angefertigt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den USA die ersten elektrischen Vorgänger der heutigen Tätowiermaschinen patentiert. Letztere schaffen es, die Farbpigmente aller Schattierungen mit bis zu 18.000 Nadelstichen pro Minute unter die Haut zu bringen. Davor arbeiteten die Menschen mit spitzen Gegenständen aller Art – von Dornen bis Knochen –, mit denen sie natürliche Pigmente, etwa Kohlenstaub, zumeist durch rhythmische Bewegungen in die Haut klopften oder mit Nadel und Faden einnähten. Letztgenannte Technik war vor allem unter den Inuit verbreitet und erlebt unter ihren Nachfahren gerade eine kleine Renaissance.
Aus der Pazifik-Region, wahrscheinlich von Samoa oder Tahiti, stammt der Begriff „tatau“, „Wunden schlagen“, aus dem später das bekannte „tattoo“ wurde. Häufig bedeckten die Tätowierungen dort große Teile der Körperoberfläche ihrer TrägerInnen, was künstlerisches und handwerkliches Können voraussetzte. Diese Tattoos durften nur von geschätzten und teuer bezahlten SpezialistInnen ausgeführt werden. Teilweise waren das einflussreiche HandwerkerInnen, die von Ort zu Ort zogen. Fast immer waren es Männer. Nur aus Fiji sind Tätowiererinnen bekannt. Mit der Kolonialisierung und Missionierung verschwanden diese SpezialistInnen zumeist und wurden Geschichte.
Pazifischer Lebensstil. Die Geschichte der Maori, der Indigenen Neuseelands, und ihrer Tattoos, den Mokos, ist beispielhaft dafür, welche wechselnde Funktionen diese im Laufe der Zeit für eine Gesellschaft erfüllen können. Nur hochrangige Maori durften sie tragen. Wer ein Moko trug, galt als durchdrungen von mana, göttlicher Kraft oder Energie.
Männer hatten ihre Mokos vor allem im Gesicht, auf den Oberschenkeln, dem Po oder auch auf dem Rücken und den Waden. Frauen trugen Mokos auf den Lippen und am Kinn, manchmal auf der Stirn, am Rücken und auf den Schenkeln. Als europäische Expeditionen ab dem 17. Jahrhundert nach Neuseeland kamen, wurden die auffälligen Gesichtstattoos vielen ihrer TrägerInnen zum Verhängnis. Die Seefahrer boten den Maori Gewehre im Tausch gegen Köpfe mit Tätowierungen an, weil sie sie als Souvenirs und Sammelobjekte nach Europa mitnehmen wollten. Es kam unter den Maori zu einem regelrechten Krieg um Köpfe und zu Zwangstätowierungen. Später verboten die christlichen Missionare die Gesichtstätowierungen und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sie fast völlig verschwunden.
Mittlerweile lassen sich junge Maori wieder Gesichts-Mokos tätowieren, um die alten Traditionen wieder aufleben zu lassen.
Die meisten der ausgefeilten Tätowierungen waren und sind auch heute individuell gestaltet. Sie geben Auskunft über den Platz in der sozialen Hierarchie und über die persönliche Leistung, über die Großfamilie, über die Genealogie, also die Abstimmungslinie, bis hin zu mythischen Ahnen.
Für die Maori sind die Mokos zudem ein politisches Symbol für die Unabhängigkeit, den Widerstand gegen die Vorherrschaft der Pakeha, den weißen NeuseeländerInnen mit europäischen Vorfahren. Sie sind ein sichtbares Zeichen für die Rückkehr zur eigenen Kultur und werden als Symbol für die Rückeroberung der eigenen Rechte und Identität eingesetzt. Auf den südpazifischen Samoa-Inseln hatten die Tattoos eine ähnliche Funktion. Sie waren nicht nur Schmuck und Zierde, sondern auch Zeichen der Leistung, der Initiation, von Status und von Abstammung. Kein Anführer und keine Frau von Rang durften untätowiert sein. Mit der Unabhängigkeit West-Samoas von Neuseeland 1962 breiteten sich die traditionellen Tätowierungen, so genannte Tatauierungen, wieder aus. Mittlerweile sind sie wesentlicher Teil des fa’a Samoa, des samoanischen Lifestyles.
In vielen Kulturen ist das Wissen über die Tattoo-Geschichte durch Missionierung und durch die Kolonialisierung zwar für immer verloren gegangen, aber global gesehen scheinen sie ein unauslöschbares Kulturgut zu sein. Auch wenn sich Formen, Techniken und Funktionen ändern, scheint das Ornament doch kein Verbrechen, sondern eine vielen Menschen inhärente Sehnsucht zu sein.
Igor Eberhard kommt aus Worms. Er arbeitet als Sozial- und Kulturanthropologe und Projektmanager an der Uni Wien. Eberhard forscht seit vielen Jahren zum Thema Tätowierungen und Haut. Sein nächstes Buch, „Tätowierte Kuriositäten, Obszönitäten, Krankheitsbilder“, erscheint Anfang 2018.
Weitere Bücher von Eberhard zum Thema:
„Pimp my Körper!“ und „Stich:Punkte: Theorie und Praxis des Tätowierens“ (Co-Hg.)
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