Die Stunde der Wahrheit

Von Werner Hörtner · · 2002/06

Endlich setzen sich auch in diesem Land die StaatsbürgerInnen mit rechter Gesinnung durch – der Weizen wird von der Spreu gesondert.

Österreich 2002. „Ich hab doch nichts getan, Herr blauer Inspektor!“ „Doch, ich habe genau gesehen, wie Sie diese junge Frau angeschaut haben!“ „Aber es ist doch nur … sie hat ein ganz ähnliches Kleid an wie meine Freundin.“ „Keine Ausrede! Ich habe alles genau gefilmt. Das wird der Staatsanwaltschaft übergeben. Außerdem: woher sind Sie eigentlich?“ „Aus Ägypten. Aber ich lebe schon…“ „Was, ein Ausländer auch noch? Unsere Frauen belästigen! Bleiben S’ doch zuhaus mit Ihren schmutzigen Blicken. Abschieben! Sie gehören abgeschoben. Und Ihnen sollte man nicht nur den Mund, sondern auch die Augen verkleben!“

Der steirische Frühling blüht, dem Beispiel der Grazer „Bürgerwehr“ sollen Gemeinden und Städte in ganz Österreich folgen, so die Absicht der blauen Regierungspartei. Womit wir wieder einen Schritt näher wären bei jenem albtraumhaft-utopischen Zustand, den George Orwell für 1984 vorausgesagt hat. Wir haben halt etwas länger gebraucht – was macht das schon, wenn man in so großen Zeiträumen denkt wie unsere rechten Vordenker.
Wackere „Reserve-Rambos“ (das hat sogar der Innenminister gesagt) werden dafür sorgen, dass der ehrliche, unbescholtene, rechtschaffene Teil der Bevölkerung sich nicht mehr unterdrücken lassen muss von den vielen kriminellen Elementen in diesem Land. Das penetrante Auge der Videokameras wird unbarmherzig alles Böse durchleuchten, und blaue Techniker arbeiten gemeinsam mit irakischen Experten bereits eine Röntgen-Kamera aus, die auch die schmutzigen Gedanken der Menschen filmen kann … (Idee in Anlehnung an George Orwell).

Es erschreckt mich – wieder einmal –, dass kein breiter und lauter Aufschrei erfolgt angesichts des Unerhörten. Es erschreckt mich, dass die oberste blaue Dame behaupten kann, es sei unerheblich, dass der Obmann dieser Bürgerwehr von Graz ein Mitglied der SS-Kameradschaft ist, „das habe nichts mit den Zielen des Vereins zu tun“. Es erschreckt mich, dass es die Regierung dieses Landes geschafft hat, unsere Sensibilitätsgrenze schon so weit anzuheben, dass nur mehr ganz selten ein Schrei aus unseren Kehlen dringt. Die viele Empörung trocknet den Hals aus.
Doch wir dürfen nicht auch unsere Herzen austrocknen lassen. Wir müssen Seifenblasen wie diese „Bürgerwehren“ platzen lassen, ohne die Luft, die wir atmen, zu vergiften. Und die ersten Reaktionen auf die blaue Überwachung sind ja durchaus ermutigend: Offenbar wollen auch die meisten „Beschützten“ nichts wissen von dieser Art von „Hilfe“.

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