Die Stunde der Tycoons

Von Nicola Glaß · · 1999/07

Die ökonomische Krise ist das Hauptthema in Hongkong, denn durch die wirtschaftliche Öffnung wird das Mutterland China immer mehr Konkurrenz für die frühere britische Kolonie. Und in Sachen Demokratie legt die im Vorjahr gewählte Stadtregierung nicht viel

Jackie Lo rutscht auf dem weichen Ledersessel im Warteraum des „Legislative-Council“-Gebäudes hin und her. Sie wartet auf die Politikerin Emily Lau, die seit den Wahlen vom 24. Mai 1998 wieder frei gewählte Abgeordnete des Parlaments ist. Jackie ist nervös, denn „Emily ist ein Star“, vertraut sie mir an. Der „Star“ eilt dann auch wenige Minuten später herein, nachdem wir bereits eine halbe Stunde auf ihn gewartet haben – lebhaft, geschäftig. Die Sitzung im Legislativrat von Hongkong hat wieder einmal länger gedauert und Lausohnehin schon vollen Zeitplan durcheinandergeworfen. Trotzdem nimmt sie sich für jedes Anliegen Zeit.

Jackie führt das Gespräch mit Emily auf kantonesisch, fragt nach einer Praktikumsstelle, möchte einmal einen Blick hinter die Kulissen des politischen Geschäftes in Hongkong werfen. Denn vielleicht, so überlegt die 17jährige, wird sie einmal, wie ihr großes Vorbild Lau, in die Politik gehen „oder irgendetwas mit Computern machen“, genau weiß sie es noch nicht.

Jackie lebt mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder in einer Appartementwohnung in Sha Tin, oben in den östlichen New Territories. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater Beamter. Für die Familie Lo hat sich seit der Übergabe ans Mutterland China jedenfalls nicht viel verändert. Jackie hat sich die Übergabezeremonie im Fernsehen angeschaut. „Einige meiner Klassenkameraden haben damals tatsächlich vor Rührung geweint“, erinnert sie sich. Sie auch? „Nein“, schüttelt sie den Kopf. Aber auch sie findet es nur richtig und natürlich, daß Hongkong wieder zu China gehört, kein Volk sollte unter einer fremden Herrschaft stehen. „Aber“, so sagt sie auch ganz entschieden, „die Regierung in Peking sollte auf keinen Fall unser Grundgesetz angreifen“. Die Bevölkerung von Hongkong sollte selbst über sich entscheiden dürfen, und die Wahlen zum Parlament sollten künftig freier sein als es im Mai vergangenen Jahres der Fall war.

Der „duftende Hafen“ im Jahre zwei nach dem Handover. Äußerlich hat sich in dieser Stadt, die seit dem 1. Juli 1997 eine chinesische Stadt ist, nicht viel verändert. Doch die Finanz- und Währungskrise in Südostasien hat auch in Hongkong ihre Spuren hinterlassen. Ausländische Geldgeber fehlen, sie investieren ihr Geld jetzt lieber in Peking und Shanghai; die Tourismusindustrie lag vor allem 1998 brach. Dann sorgte nach mehreren Monaten der Erholung kürzlich der Streik bei Cathay Pacific für erneute Einbrüche. In den Straßen der Stadt, vor allem in der Einkaufsmeile Nathan Road auf Kowloon, stechen dem Besucher bunte Schilder und Aufkleber mit Sonderangeboten ins Auge: Egal, ob es sich um Schmuck, Lederwaren oder Kleidung handelt: Die Preisnachlässe betragen oft zwischen 30% und 50%.

Auch wenn die Börse wieder Gewinne notiert, so ist das für den Anlageberater Marc Faber noch längst kein Zeichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung. „Das Preisniveau in Hongkong ist, obwohl etwas gefallen, immer noch sehr hoch, im Vergleich zu dem in China und anderen asiatischen Ländern“, kritisiert der gebürtige Schweizer und meint damit vor allem die Grundstücks- und Immobilienpreise. „Die Geschäfte laufen immer noch schlecht, das Bruttosozialprodukt fällt weiter, währenddessen in anderen asiatischen Ländern, die stark abgewertet haben, das Bruttosozialprodukt sich bereits erholt. Und da der Hongkong-Dollar an den US-Dollar gebunden ist, bleibt das Preisniveau weiter hoch.“

Die wirtschaftliche Zukunft Hongkongs sieht Faber nüchtern: Durch die wirtschaftliche Öffnung werde China immer mehr eine Konkurrenz für Hongkong sein. Die anderen Städte in China wachsen rasant, werden ebenfalls internationaler und kosmopolitischer, entwickeln selbst stärkeren Kontakt zum Ausland; eine Entwicklung, die an dem – noch – bedeutenden Börsen- und Finanzzentrum Hongkong nicht spurlos vorübergehen wird.

In Zeiten wirtschaftlicher Krise und einer Arbeitslosenquote von 6,3% hat in der ehemaligen britischen Kolonie ohnehin nur der eine Chance, der eine gute Ausbildung vorweisen kann. Die VerliererInnen in dieser auf Leistung und Erfolg bedachten Gesellschaft sind diejenigen ohne Qualifikation und ohne entsprechende Sprachkenntnisse. Immer härter trifft es auch viele alte Menschen, vorwiegend Frauen, die, ohne Familie und soziales Netz, gezwungen sind, auf der Straße zu überleben. „Vor der Übergabe gingen die Geschäfte besser“, sagt Wahrsager Chen San, der auf dem Nachtmarkt in Yau Ma Tei in Kowloon vor allem TouristInnen die Zukunft deutet.

Zeiten wie diese, in denen sich die BürgerInnen Hongkongs um ihre wirtschaftliche Existenz sorgen, machen es den pekingkritischen Abgeordneten, die im Parlament ohnehin in der Minderheit sind, anscheinend noch schwerer, ihre politischen Forderungen durchzusetzen. „Hongkongs Bürger waren immer sehr fatalistisch“, sagt Emily Lau; viele werden sich auch durch das Parlament nicht repräsentiert fühlen, denn zwei Drittel der Abgeordneten wurden am 24. Mai 1998 nicht durch freie Wahlen, sondern von der Regierung in Peking nahestehenden Organisationen und Verbänden sowie einem handverlesenen Wahlgremium bestimmt.

Der junge Hongkonger Alex Cheung ist dennoch zuversichtlich, was das politische Interesse angeht: An der diesjährigen Gedenkveranstaltung am 4. Juni anläßlich des zehnten Jahrestages des Tiananmen-Massakers von Peking gedachten über 70 000 Menschen in Hongkongs Victoria-Park der von Chinas Militär Ermordeten und machten der Regierung in Peking deutlich, was ihre Vorstellung eines freien China ist. Viele von ihnen wie Eddie To, der seine fünfjährige Tochter an der Hand hält und nur gebrochen Englisch spricht, kommen jedes Jahr zur Tiananmen-Gedenkfeier mit Kerzenlichtern und kämpferischen Liedern.

Über den politischen Alltag macht sich Emily Lau trotzdem keine Illusionen: „Unter der Regierung von Tung Chee-hwa bewegen wir uns gegenwärtig rückwärts, was die Demokratisierung betrifft“, sagt die Kämpfernatur und ehemalige Journalistin etwas resigniert. „Tung hat das Wahlrecht der Hongkonger Bürger, das Gouverneur Chris Patten kurz vor der Übergabe an China noch einführte, beschnitten. Tung will keine Demokratie in Hongkong, gegen die frei gewählten Abgeordneten im Legislativrat hegt er großen Widerwillen.“

Im nächsten Jahr wird es wieder Wahlen in Hongkong geben; von den insgesamt 60 Abgeordneten im Parlament dürfen dann 24 Mitglieder frei gewählt werden statt wie im vergangenen Jahr lediglich 20. Aber dieses Tempo einer Demokratisierung ist Lau eindeutig zu langsam und stimmt sie „sehr pessimistisch, was die Zukunft betrifft“.

Um der ökonomischen Krise Herr zu werden, müsse man sich auf Hongkongs fundamentale Stärken konzentrieren, sagen einhellig RepräsentantInnen aus Politik und Wirtschaft. Emily Lau ist allerdings strikt gegen die bevorzugte Behandlung einiger Tycoone in Hongkong, die überdies ausgezeichnete Kontakte nach Peking haben, „doch genau das ist traurigerweise hier der Fall“, regt sich die Demokratin auf. Sie spielt damit auf den Milliardär Li Ka-shing an, dessen Familie bei bestimmten Projekten eine derart exponierte Behandlung zuteil wird, daß es andere Interessenten satt haben, dem zuzusehen. Auch die Hongkonger Regierung ist an Projekten mit Li Ka-shings Familie beteiligt, die gar nicht erst öffentlich ausgeschrieben worden waren. „Ich meine damit nicht, daß die Dinge unter der britischen Herrschaft perfekt waren, auch da hat es bevorzugte Behandlung von britischen Firmen gegeben“, stellt Lau klar, „aber jetzt stellt sich alles viel eklatanter dar, und das ist eine sehr alarmierende Entwicklung.“

Das demokratische Lager, das sich bemüht, Wege aus der ökonomischen Krise zu finden, warnt davor, diejenigen Faktoren zu untergraben, die bisher den Erfolg Hongkongs als freier Markt ausmachten: „Wenn das Grundgesetz, die unabhängige Justiz und die Menschenrechte ausgehöhlt werden, dann werden wir eines Tages doch auch nur irgendeine chinesische Stadt sein“, schätzt Emily Lau die Zukunft ihrer Stadt ein. Da sei es schließlich keine Überraschung, wenn Investoren sich aus Hongkong zurückziehen, aber genau das dürfe eben nicht geschehen. „Deswegen kämpfen wir ja auch so hart für eine demokratische Zukunft.“ Spricht’s und signiert lächelnd ein von ihr kürzlich veröffentlichtes Buch für die junge Jackie Lo.

Die Autorin ist freie Journalistin und spezialisiert auf Themen

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