Die Sonne über Pretoria

Von Redaktion · · 2014/02

Mit dem Tod Nelson Mandelas Ende 2013 verlor Südafrika seinen Staatsgründer und die Welt eine der faszinierendsten politischen Persönlichkeiten. Walter Sauer, Südafrika-Kenner und Anti-Apartheid-Aktivist der ersten Stunde, blickt für das Südwind-Magazin noch einmal zurück, zurück an jenen Tag im Mai 1994 …

Kalt ging die Sonne auf über Pretoria, wie üblich zu dieser Jahreszeit. 10. Mai 1994, ein Mittwoch, ein öffentlicher Feiertag. An vereinbarter Stelle stiegen wir um 6 Uhr früh in den Bus ein, der uns hinauf zu den Union Buildings bringen sollte, ins Herz der südafrikanischen Staatsmacht. Stacheldrahtverhaue, Ausweiskontrollen, berittene Polizisten. Langsam füllte sich der fahnengeschmückte Platz, und die Sonne gewann rasch an Kraft. Neben uns Ernst Michanek, früher schwedischer Entwicklungsminister, Anti-Apartheid-Freunde aus aller Welt, hinter uns Toivo ya Toivo, langjähriger Häftling auf der Gefängnis-Insel Robben Island und nun Bergbauminister von Namibia. Wir begrüßten uns alle herzlich. Vor uns defilierten die Staatsoberhäupter: Fidel Castro, Yassir Arafat, Robert Mugabe. Musikkapellen spielten auf, Chöre sangen, in den tiefergelegenen Gärten verfolgten Zehntausende das Geschehen auf großen Monitoren.

Plötzlich wuchs der Beifall zum Orkan, wir sprangen auf, die Stimmung explodierte. Jener Mann betrat das Podium, zu dessen Ehre wir eingeladen waren: Nelson Mandela. Ich glaube, wir wurden fast wahnsinnig damals.

Durch die offizielle Einladung an Anti-Apartheid-Bewegungen, an der Amtseinführung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes teilzunehmen, brachte das neue Südafrika seine Anerkennung zum Ausdruck. Die Anerkennung des Beitrags, den Nichtregierungsorganisationen in aller Welt zur Befreiung von der Apartheid geleistet hatten – neben der demokratischen Massenbewegung in Südafrika selbst, dem militärischen Kampf des bewaffneten Flügels des African National Congress (ANC) und den von UNO und Regierungen verhängten Sanktionen. Es war nie einfach gewesen, diese unterschiedlichen Perspektiven und Interessen zusammenzuhalten, aber es gab Elemente, die von allen mitgetragen wurden. Eines davon war die Forderung nach Freilassung des prominentesten politischen Häftlings Südafrikas, Nelson Mandela.

Südafrikas Weg

1910: Die Südafrikanische Union wird gegründet. Die weißen Machthaber forcieren die Segregation.

1912: Der African National Congress (ANC) wird gegründet. Trotz des Widerstandes werden in den folgenden Jahren die Rechte der Schwarzen weiter beschnitten.

1948: Die Nationale Partei kommt an die Macht und setzt die Apartheid systematisch um, eine Reihe rassistischer Gesetze wird erlassen.

1960: Bei einem Massaker im Township Sharpeville werden am 21. März 69 demonstrierende Schwarze von der Polizei erschossen. Unruhen sind die Folge. Die Regierung ruft am 30. März den Ausnahmezustand aus. Der ANC wird verboten und arbeitet ab dann im Untergrund. 

1962: Nelson Mandela wird verhaftet.

1976: Ein Aufstand in Soweto wird blutig niedergeschlagen. Nach offiziellen Angaben sterben 575 Menschen.

1980er Jahre: Der internationale Druck auf die südafrikanische Regierung wächst, nicht zuletzt, da Staaten und Unternehmen das Land boykottieren.

1989: Nach der Wahl Frederik Willem de Klerks zum Präsidenten wird das Verbot des ANC 1990 aufgehoben. Mandela kommt 1990 frei. Regierung und ANC verhandeln, eine neue Verfassung wird angekündigt.

1994: Erste Wahlen unter Beteiligung der Schwarzen. Nelson Mandela wird Präsident. sol

Als wir 1980 die internationale Kampagne „Free Mandela“ auch nach Österreich brachten, gab es jede Menge Erklärungsbedarf. Wenige kannten den 1918 in einem ländlichen Gebiet Südafrikas als Sohn aus adeligem Haus geborenen Mandela. Wenige wussten, dass er wegen seines Engagements gegen die gesetzlich festgeschriebene Rassendiskriminierung zu lebenslanger Haft verurteilt worden war; dass er das Ideal einer nicht-rassistischen Gesellschaft als Programm des ANC, der dominierenden Befreiungsbewegung des Landes, durchgesetzt hatte; dass das Regime der rassistischen Nationalen Partei in Pretoria 1960 den Ausnahmezustand verhängt und die wenigen noch verbliebenen Rechte der schwarzen, indischen und farbigen Mehrheitsbevölkerung beseitigt hatte. 1982 wurden Mandela und einige seiner Mitgefangenen von der KZ-Insel Robben Island in ein Gefängnis auf dem Festland verlegt. Ein erster Erfolg des internationalen Drucks? Jedenfalls der Beginn von Geheimgesprächen. Dies erfuhr man 1985, als Mandela das Angebot der Regierung, ihn gegen Verzicht auf politische Betätigung freizulassen, in einer von seiner Tochter Zindzi öffentlich verlesenen Botschaft zurückwies. Fünf Jahre später freilich sah sich das Regime zur Legalisierung aller verbotenen Parteien sowie zur bedingungslosen Freilassung Mandelas gezwungen – Südafrika war durch Massenaufstände teilweise unregierbar geworden, der internationale Druck auf Pretoria hatte sich bis dahin wesentlich verstärkt.

Der Mai 1994 markierte das Ende eines vierjährigen, komplexen und oft vom Scheitern bedrohten Verhandlungsprozesses zwischen den Lagern der Apartheidregierung und des Widerstands. Dabei war es gelungen, die demokratie- und staatspolitischen Kernforderungen des ANC durchzusetzen: eine Verfassung, die den Menschenrechten und internationalen Konventionen entsprach; freie Wahlen nach dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“ in einem ungeteilten Südafrika (was die Auflösung der so genannten Homelands bedeutete, der geographisch definierten, isolierten Gebiete, die Ethnien „zugewiesen“ wurden); einen Mechanismus zur Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverbrechen der Apartheid; sowie das Bekenntnis zu einer Landreform.

Dass Forderungen nach wirtschaftlicher Umverteilung weniger Berücksichtigung fanden, war vor allem dem veränderten internationalen Gleichgewicht und dem vorschnellen Ende der Sanktionen geschuldet (zu viel ANC wollten die westlichen Regierungen dann doch wieder nicht), wohl aber auch einem Nachgeben des ANC.

Nelson Mandela als Staatspräsident: Niemand sonst wäre so rasch in die Rolle einer über den tagespolitischen Konflikten stehenden Identifikationsfigur hineingewachsen. Die in der Interimsverfassung von 1993 fixierte nicht-rassistische und nicht-sexistische Philosophie entwickelte sich auf einem stabilen politischen System. Das ist nicht zuletzt Mandelas Verdienst.

Auch wenn sich die Transformation mittlerweile abgeschwächt hat, und auch wenn manche Entscheidungen Mandelas, wie der allzu frühe Verzicht auf die Streichung der vom Apartheidregime angehäuften Schulden, sich in diese Richtung ausgewirkt haben: Die Erfolge seiner Amtszeit in Hinblick auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Mehrheitsbevölkerung bleiben bis heute spektakulär: Landreform, Wohnungsbau, Ausbau des Sozialwesens, Bildungs- und Gesundheitsreform.

Nelson Mandela ist am 5. Dezember 2013 im 96. Lebensjahr verstorben. Heiß ging die Sonne auf über Pretoria, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Das neue, demokratische Südafrika hat seinen Staatsgründer, die Welt eine der faszinierendsten politischen Persönlichkeiten des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts verloren. Mandelas Errungenschaften werden bleiben, ebenso aber die Herausforderungen der neuen Zeit: Arbeitsplätze, Beseitigung der durch die Apartheid geschaffenen Armut, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit. Möge Südafrika auch hier zum Vorbild werden.

Walter Sauer ist Historiker und Vorsitzender des Dokumentations- und Kooperationszentrums Südliches Afrika (SADOCC). SADOCC fordert eine Nelson-Mandela-Straße oder einen Nelson-Mandela-Platz in Wien. www.sadocc.at

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