Die Sklaverei als Welterbe der Menschheit

Von Werner Zips · · 2002/05

Der „schwarze“ Nationalismus in den USA als Widerstand und Freiheitskampf gegen den „weißen“ Nationalismus verlangt historische Gerechtigkeit. In den meisten Geschichtsbüchern ist diese Seite der amerikanischen Geschichte immer noch ausgeklammert.

Schwarzer Nationalismus hat seine Wurzeln in der Ausbeutung durch die Weißen. Er ist im wesentlichen eine „Wundreaktion“. Die Wunde heißt Sklaverei. Und es ist eine offene Wunde, obwohl die institutionalisierte und legalisierte Entmenschlichung von Menschen zu Arbeitstieren in den USA vor über 130 Jahren aufgehoben wurde. Wie lange eine Vergangenheit weiterlebt, hängt von der Bedeutung ihrer „Geschichte“ in der Gegenwart ab. Wer in Philadelphia den geraden Weg vom Flughafen in die Innenstadt nimmt, weiß genauso wie nach einem Besuch der Schwarzen-Ghettos in Washington oder New York, dass die Sklavenketten in den Museen gelandet sind, aber nicht die Lebensverhältnisse, die sie geschützt und unterstützt haben.
Die schweren Hip-Hop-Beats in den Straßen lassen sich ebenso als (Auf-) Schreie der jüngsten Generation lesen wie als Trommeln der Rebellion. Weiß und Schwarz trennt (nicht nur in den USA) ein unverbrauchtes „Welterbe der Menschheit“: die Sklaverei, der Raub von Millionen Menschen aus ihrem Mutterland und ihre nachfolgende Neuansiedlung in der „Neuen Welt“, die ihren alten BesitzerInnen gestohlen worden war.

Die Gegenwehr der verschleppten AfrikanerInnen beginnt auf dem ersten Sklavenschiff, das im Jahr 1609 Virginia erreichte. Danach begleitet sie die Entwicklung der USA als fortlaufende Revolution im engsten Wortsinn eines (versuchten) Umsturzes der herrschenden politischen und sozialen Ordnung. Ihr gemeinsamer Nenner über einen Zeitraum von beinahe 400 Jahren ist keine politische, religiöse oder sozio-ökonomische Ideologie, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der mittels der Konstruktion „Rasse“ die Gleichberechtigung vorenthalten wurde. Aus diesem Grund entfaltet der schwarze Nationalismus eine emanzipatorische Richtung – als Widerstand und Freiheitskampf gegen „weißen“ Nationalismus. In den Diskursen seiner führenden ProponentInnen spiegeln sich jedoch auch die rassistisch-repressiven Bestandteile des (unausgesprochen weißen) Nationalismus.

„Volksfeind Nr. 1“ – diese Rolle ist schwarzen Nationalisten in den USA auf jeden Fall sicher. Der Grund: Sie kämpfen für die Unabhängigkeit von jenem Superstaat, dessen unbestreitbare Weltmachtstellung auf ihrer „Sklavenarbeit“ auf dem Land beruht, das den „indianischen“ UreinwohnerInnen gestohlen wurde. Ihre jahrhundertelange Zwangsarbeit als Versklavte, Unfreie und Lohnabhängige schuf den Wohlstand, den andere genießen. Zum Unterschied von der Bürgerrechtsbewegung träumten Black Nationalists nicht davon, mit den Kindern der Sklavenhalter an einem Tisch sitzen zu dürfen, sondern vielmehr ebenso leicht wie diese für ihren eigenen Unterhalt sorgen zu können.
Seit den Anfängen der politischen Emanzipationsbewegungen im 19. Jahrhundert bis zu den bekannten Aktivisten wie Marcus Garvey, Malcolm X, Louis Farrakhan oder der Hip-Hop-Gruppe Public Enemy begleitete eine feindselige mediale Propagandamaschinerie die Forderungen nach Anerkennung, gleichen Rechten und historischer Gerechtigkeit.
Marcus Garvey konterte der allgegenwärtigen White Supremacy mit seinem Programm der Black Supremacy. Malcolm X gab dem spirituellen Oberhaupt der Nation of Islam seinen Sklavennamen (Little) zurück und ersetzte ihn durch den Buchstaben X für seinen gestohlenen afrikanischen Namen. Frustriert von der rassisch determinierten „Klassengesellschaft“ wählte die Hip-Hop-Generation das Symbol X als „marker“ zu einem doppelgleisigen Prozess der Selbstfindung und der radikalen Kritik am „amerikanischen Albtraum“ aus der Sicht des „schwarzen Amerika“.

Wenn African Americans heute von Integration sprechen, dann meinen sie oftmals die „Wiedervereinigung“ mit ihren afrikanischen Brüdern und Schwestern im „Motherland“ und nicht mehr unbedingt die Gleichberechtigung mit allen anderen US-amerikanischen StaatsbürgerInnen wie zu Zeiten von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung.
„Schwarzer Nationalismus“ wurde aus der Not geboren, als Reaktion auf all jene repressiven Formen des (weißen) Nationalismus, welche die Nachkommen der Versklavten auf den „Plantagen“ behalten wollten, gleichgültig ob auf jenen neben den Herrenhäusern in Virginia oder jenen in den Ghettos von Washington, New York oder Philadelphia. Daher lässt sich die nationalistische Selbstorganisation der Unterdrückten nicht als einfache Abbildung anderer Nationalismen verstehen, sondern als deren gebrochene Spiegelung. In der unendlichen Revolution gegen rassistisch begründete Herrschaft liegt eine emanzipatorische Grundstruktur von Black Nationalism (in den USA und anderen Teilen der afrikanischen Diaspora), die der üblichen Gewalt nationalistischer Bewegungen widerspricht.

Den USA droht in der Gegenwart tatsächlich mehr Gefahr von innen als von außen. Die Lebensbedingungen in vielen Großstädten sind brisant. Viele machen das „verbale Zündeln“ der so genannten Schwarzen Nationalisten für das „Pulverfass Rassenbeziehungen“ verantwortlich.
Die eigentlichen Gründe liegen freilich tiefer: im historischen Vergessen der ungleichen Gesellschaftskonstitution, in der Blindheit gegenüber institutionalisierter Ungerechtigkeit sowie in der (nicht unverschuldeten) Ignoranz der Weißen gegenüber der Situation der Schwarzen, gegenüber der Einsicht, was es heißt, in den USA Schwarz zu sein. Das in Anspruch genommene (göttliche) Mandat, sich die Erde (der Anderen) untertan zu machen, bildet die wahren chemischen Bestandteile der explosiven sozialen Beziehungen.

Der Autor ist a.o. Professor am Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien mit Schwerpunkt Karibikforschung und rechtsanthropologische Fragen.

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