Die Schule Schop79 blickt weiter

Von Johannes Greß · · 2023/Jan-Feb
Weltreise im Klassenzimmer: An der Mittelschule Schop79 dreht sich der Unterrichtsalltag um globale Zusammenhänge. © Alexander Chitsazan

Globales Lernen sollte Schüler:innen in Österreich helfen, die komplexe Welt verstehen zu lernen. Besuch in einer besonders engagierten Schule.

Die globale Erwärmung seit Beginn der Industrialisierung? „Ein Grad!“. Und in Österreich? „Zwei Grad!“. Woran liegt das? „Am Treibhauseffekt!“. Es ist Mittwoch, 11:10 Uhr. Lehrerin Bich Bui steht vor der 3B-Klasse der Mittelschule Schop79 in Wien-Währing. Die 32-Jährige gibt ein paar Stichworte und die Finger schnellen nach oben. Sie wirkt mehr als Moderatorin denn als Lehrerin. Auf der Tafel steht in großen Lettern „Die Folgen des Klimawandels“.

Und die Schüler:innen der 3B, zwischen 13 und 14 Jahre alt, wissen Bescheid. Über Kohlenstoffdioxid und Methan, über Sharm El-Scheich und die COP27, den Unterschied von natürlichen Veränderungen und menschgemachter Klimakrise. Erst bei der Frage, warum der Treibhauseffekt eigentlich Treibhauseffekt heißt, kommen sie ins Grübeln. Bui holt ein Tablet hervor und zeigt ein Gewächshaus. Die Schüler:innen raunen.

Seit Beginn der 2000er empfiehlt das Bildungsministerium, das sogenannte „Globale Lernen“ in den österreichischen Unterrichtsalltag zu integrieren. Das Bildungskonzept orientiert sich an den Empfehlungen der UNESCO. Das heißt Bildung wird als „eine Form des Lernens und eine Weise des Denkens, die Menschen dazu ermutigen, die Verflechtungen zwischen lokaler, regionaler und globaler Ebene aufzuspüren und sich mit gesellschaftlicher Ungleichheit auseinanderzusetzen“ verstanden. Mittlerweile ist Globales Lernen Bestandteil der Lehrpläne sämtlicher Schultypen. Doch Lehrpläne und Empfehlungen sind das eine, der Unterrichtsalltag das andere.

In der Praxis. Die Schop79 ist die einzige öffentliche Mittelschule in Währing. Umringt von Privatschulen und Gymnasien ist sie in dem bürgerlichen Bezirk im Nordwesten Wiens ein Exot.

Im Kontrast zu den umliegenden Schulen werde man hier gerne als „Brennpunktschule“ gesehen, sagt Erika Tiefenbacher, seit 19 Jahren Schulleiterin. Aus dem einfachen Grund, weil die Erstsprache der Schüler:innen hier für viele Russisch, Arabisch, Türkisch oder BKS (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) und nur für wenige Deutsch ist. Und weil die Kinder oftmals aus einkommensarmen Familien kommen.

Für Tiefenbacher ist im Unterricht daher die Frage entscheidend: „Was für ein Rüstzeug brauchen unsere Kinder und Jugendlichen, damit sie in unserer Gesellschaft zurechtkommen und sich wohlfühlen?“.

Erika Tiefenbacher, 56, ist seit 19 Jahren Schulleiterin an der Schop79 in Wien-Währing. © Alexander Chitsazan

Vergangenes Jahr wurde die Schop79 mit dem Staatspreis „Innovative Schulen“ ausgezeichnet. Für ihre Projektwoche zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen, also den Sustainable Development Goals, kurz SDGs, wurde sie von der Bildungsdirektion Wien diesen Sommer zur SDG-Botschafterschule gewählt.

Über dieses Rüstzeug macht sich auch Susanne Loher Gedanken. Sie ist Bereichskoordinatorin für Bildung bei der NGO Südwind. Wenige Tage vor dem Gespräch mit dem Südwind-Magazin kehrte sie von den Verhandlungen des Global Education Network Europe (GENE) aus Dublin zurück. Jugendorganisationen, NGOs, Wissenschafter:innen sowie Vertreter:innen von 50 Ministerien aus 25 Ländern einigten sich in einem 18-monatigen Prozess auf die „GE2050 Declaration“.

Bei der kurz als „Dublin Declaration“ bezeichneten Vereinbarung handelt es sich um ein emanzipatorisches Bildungskonzept, das auf Prinzipien des Globalen Lernens beziehungsweise der Global Citizenship Education aufbaut. „Globale Bildung“, so die Deklaration im Wortlaut, „befähigt Menschen, die Welt und ihren Platz in ihr kritisch zu reflektieren; sie öffnet ihre Augen, Herzen und Hirne gegenüber der realen Welt auf lokaler und globaler Ebene“.

Ein besonderer Fokus liege auf der historischen Rolle Europas, betont Loher. „Wir in Europa, im reichen Norden, müssen unsere kolonialen und rassistisch geprägten Denkmuster hinterfragen“.

Bildung spiele dabei eine essenzielle Rolle. Loher: „Frieden, ökologische Krise, Geschlechterrollen, Gerechtigkeit, die Frage, wer zahlt den Preis für unseren Wohlstand – all diese Dinge bräuchten in unseren Lehrplänen mehr Platz!“

Geduldiges Papier. Im deutschsprachigen Raum hat sich das Bildungskonzept Globales Lernen in den 1990er Jahren als sogenannte Querschnittsmaterie etabliert. Fragen globaler Gerechtigkeit, nach Macht und Herrschaftsbeziehungen, nach Rassismus und Identität sollen sich quer durch alle Fächer ziehen, vom Deutschunterricht über Geographie bis zur Mathematik.

Im Koalitionsabkommen von ÖVP und Grünen heißt es, im Unterricht sollten Themen wie „Klimawandel und ökologisch verantwortungsbewusstes Handeln“ „zeitgemäß“ behandelt werden. In den Lehrplänen sämtlicher Schultypen ist „Global Citizenship Education“ im Kapitel „Leitvorstellungen“ verankert.

Doch nicht immer decken sich Papier und Unterrichtsrealität. Helena Papadopoulos ist Bildungsreferentin bei Baobab, einer NGO zur Vermittlung von Wissen und Bildung in globalen Zusammenhängen. Sie und ihre Kolleg:innen bieten Workshops und Fortbildungen für angehende Lehrkräfte an und beraten aktive Lehrer:innen bei der Umsetzung von Globalem Lernen im Unterricht. Vor allem vonseiten der Pädagogischen Hochschulen nehme das Interesse in den vergangenen Jahren zu. „Ich kann natürlich nicht in jedes Klassenzimmer hineinschauen“, sagt Papadopoulos, aber im Unterricht selbst könnte Globales Lernen in Österreich „auf jeden Fall noch präsenter sein“.

Darauf angesprochen sieht auch Bildungsexpertin Loher noch „viel Luft nach oben“, um Globales Lernen und verwandte Konzepte im Unterrichtsalltag zu verankern.

Lehrerin Bich Bui (rechts) ist Quereinsteigerin, studierte davor Kulturwirtschaft mit Fokus Entwicklungsökonomie. © Alexander Chitsazan

Erfahrung weitergeben. Als Direktorin Erika Tiefenbacher im Laufe der 1980er Jahre ihre pädagogische Ausbildung machte, waren Globales Lernen oder Global Citizenship Education Fremdwörter. Sechs Jahre arbeitete die heute 56-Jährige bei Baobab. Im Rahmen von Arbeitseinsätzen in Brasilien, Ecuador, Indien oder China eröffneten sich  Tiefenbacher „neue Welten“. Zurück in Österreich waren ihr der Fokus aufs Globale, auf die großen Zusammenhänge in ihrer pädagogischen Arbeit ein großes Anliegen.

Lehrerin Bich Bui unterrichtet seit sechs Jahren an der Schop79. Während der Ausbildung bekam sie vom Globalen Lernen wenig mit, sagt sie. Bui kam als Quereinsteigerin, über das Programm Teach For Austria, an die Mittelschule in Währing. Zuvor studierte sie Kulturwirtschaft an der Universität Passau, mit Fokus auf Entwicklungsökonomie.

Vor diesem Hintergrund sei es ihr wichtig, dass Schüler:innen Bescheid wissen, was in der Welt passiert: „Wir reden ständig über Klimawandel, Energiekrise und Inflation – aber die Kinder wissen teilweise gar nicht, was das eigentlich bedeutet.“

Empathie üben. In ihrer Klasse ist man mittlerweile bei den Folgen der Klimakrise angelangt. Bui hängt Bilder von Naturkatastrophen an die Tafel, während die Jugendlichen Texte von Betroffenen lesen. Verschiedene Menschen erzählen, wie sie eine Überschwemmung in Alaska erlebten, berichten von einer Dürre in Australien und einem gewalttätigen Konflikt um versiegende Wasserquellen in Pakistan.

Die Schüler:innen markieren den jeweiligen Schauplatz auf der Weltkarte und versuchen, sich in die Situation der Personen hineinzuversetzen. In der Gruppe diskutieren sie, was sie in dieser Situation tun würden. Was sollte die Politik in dem Land tun? Und was würden sie den Delegierten der COP27 sagen?

„Ich finde es gut, dass wir in der Schule über solche Themen sprechen, denn wir sind eine neue Generation“, sagt Zen Abdulrahman nach dem Unterricht. Als solche bräuchten sie mehr Bewusstheit für einen sich radikal verändernden Planeten als die Generation seiner Eltern, findet der 14-Jährige.

Wenn er für seine Familie Einkäufe erledigt, versucht er keine Plastiksackerl zu verwenden, erklärt er. Die Politik sollte seiner Meinung nach mehr Parks und Grünraum schaffen.

Auch seine Klassenkameradin Mija Marjanovic bemerkt, wie sich die Umwelt verändert: „Im November konnte ich noch immer in meiner Herbstjacke rausgehen“, sagt die 13-Jährige. Seit sie in der Schule über die Klimakrise lernen, achtet sie mehr darauf, Papier zu recyceln und Wasser zu sparen. „Ich glaube, die neue Generation kann es besser machen, wenn wir mehr darüber wissen“, sagt Marjanovic selbstbewusst.

Größerer Kontext. Der neue Lehrplan lässt viel Raum für fächerübergreifendes Lernen und das Unterrichten globaler Zusammenhänge, aber Lehrer:innen anderer österreichischer Schulen berichten, dass Globales Lernen in der Ausbildung wie im Schulalltag kaum eine Rolle spielt. Die konkrete Umsetzung scheint meist von engagierten Lehrer:innen und Schulleiter:innen abhängig zu sein.

Trotzdem: Südwind-Bildungskoordinatorin Loher ist angesichts der Dublin-Deklaration vorsichtig optimistisch. Diese biete die Chance zu zeigen, dass es genügend Akteur:innen gibt, denen etwas an emanzipatorischer Bildung gelegen ist.

Österreich habe mit dem Masterprogramm Global Citizenship Education an der Universität Klagenfurt, das als Weiterbildungsangebot Lehrgänge an Pädgagogischen Hochschulen und einzelne Lehrveranstaltungen in der Lehrer:innenausbildung ergänzt, eine gute Ausgangsbasis und zunehmend Lehrpersonal, welches auf Globales Lernen fokussiert, beobachtet Loher.

Die vielgeäußerte Sorge, dass ein übervoller Lehrplan kaum Raum für globale Zusammenhänge lasse, will Schludirektorin Tiefenbacher nicht gelten lassen: „Mut zur Lücke“, fordert sie.

Allein die vielen Nationalitäten an ihrer Schule eröffnen Möglichkeiten, Fragen im größeren Kontext zu behandeln. „Vieles ergibt sich nicht aus dem Lehrplan, sondern aus dem politischen Alltag und den Bedürfnissen der Kinder, der Lehrerinnen und Lehrer.“ Es ist 12 Uhr und die Schulstunde in der Klasse 3B neigt sich dem Ende zu. Eiligst lassen die Schüler:innen ihre orangen Geografiehefte in den Schultaschen oder im Bankfach verschwinden.

Die Frage, wer die Tafel wischt, ignorieren die meisten, während sie sich gekonnt in die Pause stehlen. Globales Lernen hin oder her, manche Unterrichtsabläufe ändern sich wohl nie.

Johannes Greß ist freier Journalist in Wien und arbeitet überwiegend zu den Themen Ökologie und Wirtschaft.

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