Die Nase voll von unserer derzeitigen „Demokratie“? Gut so! Ein Loblied auf die Geburt der Hoffnung aus dem Geist der Politikverdrossenheit – von New Internationalist-Redakteurin Vanessa Baird.
Wer weiß schon, was sie wirklich vor hatte? In ihrer Tasche fand man eine Rückfahrkarte für die Bahn und eine Eintrittskarte für eine Tanzveranstaltung am selben Tag, ein Indiz dafür, dass sie nicht unbedingt als Märtyrerin enden wollte. Vielleicht wollte sie ein Spruchband auf einem Rennpferd anbringen, damit die Fahne der Suffragetten hinter dem Pferd über die Ziellinie wehen würde. Aber das ist nur eine von vielen Theorien. Emily Davison kam am Tag des English Derby von Epsom bei London Anfang Juni 1913 nicht mehr zu Bewusstsein. Sie ging als die Frau in die Geschichte ein, „die sich unter das Pferd des Königs warf, um das Frauenwahlrecht durchzusetzen“.
Solche Beispiele von Mut und Opferbereitschaft im Kampf um das Wahlrecht gibt es in der Weltgeschichte zuhauf. Viel Blut ist geflossen, um die Rechte zu erkämpfen, die wir für selbstverständlich halten.
In den 1970er Jahren waren weniger als die Hälfte der 192 Staaten der Welt repräsentative Demokratien. In der Sowjetunion und Osteuropa herrschten kommunistische Diktaturen; Spanien, Portugal, Griechenland und ein großer Teil Lateinamerikas wurden von rechten Militärs regiert, und in vielen der jungen Staaten Afrikas waren Einparteienregime an der Macht. In Indonesien und den Philippinen schienen sich die Diktaturen unter Suharto und Marcos auf Dauer etabliert zu haben.
Zur Jahrtausendwende waren rund 120 Staaten mit zusammen rund 60 Prozent der Weltbevölkerung repräsentative Demokratien.1) Einparteienregime und Diktaturen waren Ausnahmen. Scheinbar sind wir in ein Goldenes Zeitalter der Demokratie eingetreten.
Aber wie verträgt sich das mit folgenden Tatsachen? In der früheren Sowjetunion etwa machen nicht einmal 50 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Der historische Wahlkampf in den USA, der den ersten schwarzen Präsidenten ins Weiße Haus brachte, motivierte bloß 62 Prozent dazu, ihre Stimme abzugeben. In Großbritannien geht weniger als die Hälfte der 18-24-Jährigen zur Wahl.2) Aber nicht nur junge Menschen verzichten auf eine Wahlbeteiligung: In einem BBC-Interview meinte ein 70-jährige Frau, sie hätte an den Parlamentswahlen von 2010 nicht teilgenommen, weil sie „politisch aktiv“ sei. Auf eine Nachfrage nannte sie die Kampagnen, an denen sie sich beteiligte. Wählen betrachtete sie als einen passiven Akt, mit dem man Macht an andere abgibt.
In der breiten Öffentlichkeit wird „Politik“ dagegen überwiegend als Prozess wahrgenommen, bei dem es um Wahlen, Parteien und – zunehmend – die Persönlichkeit ihrer Führungsfiguren geht. Allerdings hat sich der Kontext zumindest in Großbritannien und Australien seit den jüngsten Wahlen, die keiner Partei eine eindeutige Mehrheit brachten, etwas verändert. Die WählerInnen, hieß es in beiden Ländern, hätten die beiden Großparteien „bestraft“, indem sie keiner von beiden ein Regierungsmandat erteilt hätten. Parteihengste reagieren auf ein solches Verhalten alarmiert, WissenschaftlerInnen mit Neugier.
Die kanadischen Forscher Neil Nevitte und Mebs Kanji etwa beobachteten in einer länderübergreifenden Studie ein sinkendes Vertrauen in Regierungen und demokratische Institutionen. „Die technologische Transformation der Freizeit“, heißt es darin, habe zu „einem Rückgang des staatsbürgerlichen Engagements und des Vertrauens in der Gesellschaft“ geführt. Aber es gab auch positivere Gründe für diese Entwicklung: Die Menschen würden kritischer gegenüber traditionellen hierarchischen Organisationen, die Akzeptanz von Autoritäten ginge in allen Bereichen zurück, einschließlich in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Politik.3) Andere sehen einen solchen kontinuierlichen Vertrauensrückgang eher als Artefakt. Charles Barclay von der London School of Economics beobachtet eher extreme Schwankungen des Vertrauens, mit starken Einbrüchen insbesondere nach Korruptionsskandalen.4)
Was dem Vertrauen den letzten Jahren aber am meisten geschadet hat, zumindest aus Sicht all jener, denen die bürgerlichen Freiheiten am Herzen liegen, lässt sich mit ein paar Wörtern zusammenfassen: „Der Krieg gegen den Terror.“ Dieser von George W. Bush erklärte Feldzug, der von der Politik weltweit eilfertig in die Tat umgesetzt wurde, hat zu einem Verrat an der Demokratie geführt, der seinesgleichen sucht. Zuhause wurden die demokratischen Institutionen geschwächt, Freiheitsrechte suspendiert und eigene BürgerInnen zwecks Folter ins Ausland verschleppt; gleichzeitig marschierte man in fremde Länder ein, verhaftete, folterte und tötete deren BürgerInnen, alles im Namen der Demokratie, während Despoten in „befreundeten“ Ländern weiter unterstützt wurden.
Wahlen sind Bestandteil der Demokratie. Sie sind aber nicht ihr definierendes Merkmal – das zu glauben ist ein großer Fehler. Demokratie umfasst zwingend auch Presse- und Meinungsfreiheit, eine unabhängige Gerichtsbarkeit, Freiheit von Diskriminierung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf ein faires Verfahren, und auch soziale Menschenrechte wie das Recht auf Gesundheit, Bildung und einen angemessenen Lebensstandard sollten gewährleistet sein.
Die Fluten in Pakistan rissen nicht nur Menschenleben und Lebensgrundlagen mit sich, sondern enthüllten auch, wie schlecht es um die junge Demokratie des Landes bestellt ist. Für Präsident Asif Ali Zardari war die Katastrophe nicht schlimm genug, um seine Europareise abzubrechen, und wie seine Regierung auf die Krise reagierte, entpuppte sich mit ihrer Eskalation als geradezu erschreckend.
Pakistan ist nicht das einzige Land mit einer politischen Elite, die als gierig, eigennützig und unsensibel gegenüber der Gesellschaft wahrgenommen wird, der sie eigentlich dienen sollte. Dieser Stand der Dinge ist ebenso in jungen wie „alten“ Demokratien zu beobachten. Bei einer Umfrage in den USA gaben 80 Prozent an, das Land werde von einigen wenigen mächtigen Gruppen regiert, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen; 94 Prozent meinten, die Regierung kümmere sich nicht um die öffentliche Meinung. 5)
Oft heißt es, Wahlen würden nicht gewonnen, sondern gekauft. Das entspricht der „Investitionstheorie“ der Politik, wie sie der Ökonom Thomas Ferguson formuliert: Die Regierungspolitik spiegelt die Wünsche mächtiger Gruppen wider, die alle vier Jahre investieren, um sich die Kontrolle über den Staat zu sichern. In den meisten Ländern gibt es Regeln, die das verhindern sollen, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Selbst bei den Wahlen, die Obama an die Macht brachten, gingen neun von zehn gewonnenen Sitzen an die KandidatInnen mit den größten Wahlkampfbudgets, berichtete das überparteiliche Center for Responsive Policies in Washington. Obama gab zweimal mehr Geld aus als Cain; er hatte sich großzügige Spenden aus dem Finanzsektor und von Rechtsanwaltsfirmen gesichert.5)
Nicht nur das Geld höhlt die Demokratie bei den Wahlen aus, sondern auch die bewusste Ausklammerung der wirklichen Themen im Wahlkampf. „In der Politik geht es nicht um Themen“, schreibt ein führender Berater der US-Demokraten, „in der Politik geht es um Identität. Es gewinnen die Kandidaten und Parteien, die ihre Positionen am genauesten auf die Mehrheit der WählerInnenschaft abstimmen. Die Gewinner sind die, die in der öffentlichen Meinung ein positives Bild von sich selbst und ein negatives Bild ihrer jeweiligen GegnerInnen verankern.“6) Dieser PR-dominierte Zugang wird auch in Ländern mit traditionell stark basisorientierten Parteien zusehends zur Norm.
Die Ironie dabei: Je besser die PR-Maschinen funktionieren, desto eher nimmt die Skepsis gegenüber dem gesamten Prozess zu. Viele fühlen sich in ihrem Eindruck bestätigt, dass diese Art der formellen Demokratie, die Delegation von Entscheidungen an periodisch gewählte PolitikerInnen, jeder Substanz entbehrt, letztlich ein Schwindel ist. Sie wollen mehr. Dieser Wunsch taucht in konventionellen Medien als etwas Negatives auf, besonders wenn er sich in Form von Protesten junger Menschen manifestiert – als Anti-dies oder Anti-das. Tatsächlich handelt es sich um etwas Positives, Kreatives.
Man braucht bloß dort hinzusehen, wo Demokratie gelebt wird – auf den Straßen, in urbanen und ländlichen Gemeinschaften, in Versammlungshallen, wo das Schlüsselwort „Partizipation“ lautet. Das Konzept einer „partizipativen Demokratie“, ursprünglich entstanden in der brasilianischen Stadt Porto Alegre, hat sich nach und nach um die Welt verbreitet. Bei einer „partizipativen Budgeterstellung“ etwa entscheidet die lokale Bevölkerung über die Verwendung eines Teils des Gemeindebudgets. Projekte können vorgeschlagen, diskutiert und in eine Rangordnung gebracht werden. Dieses Modell wird heute in mehr als 1.200 Gemeinden praktiziert, nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Frankreich, Spanien, Großbritannien, Kanada, Italien, Deutschland und Indien. In Venezuela existieren tausende so genannte „Volkskomitees“, die auf einem ähnlichen Prinzip beruhen.
Bei partizipativer Demokratie geht es um mehr als um Geld und Budgets. Sie verändert die Organisation von Gemeinschaften und Gesellschaften, die Verteilung der Macht. Ein Beispiel dafür ist etwa die außerordentlich erfolgreiche brasilianische Landlosenbewegung MST. In einem der Länder mit der höchsten Ungleichheit hat es die MST geschafft, 337.000 landlosen Familien zu Ackerboden zu verhelfen. Das gelang nicht durch eine Top-Down-Strategie, sondern auf Basis einer nicht-hierarchischen, nicht-sexistischen Struktur, in der Entscheidungen per Konsens und nicht durch Abstimmen getroffen werden.
Im bolivianischen El Alto, einer riesigen Armensiedlung bei La Paz, protestierte die Bevölkerung gegen geplante Gasexporte, von denen nur die reiche Elite des Landes und ausländische Multis profitiert hätten. Ihr Marsch auf La Paz führte 2005 zum Sturz der Regierung von Präsident Carlos Mesa. In El Alto selbst entwickelten sich lokale Regierungsformen, die zu einem dauerhaften Modell einer autonomen lokalen Demokratie wurden und den Weg für die Wahl von Evo Morales und seiner Partei MAS ebneten, die selbst aus einer Koalition sozialer Bewegungen hervorging.
In mehreren Ländern Lateinamerikas – Venezuela, Ecuador, Bolivien – wurden neue Verfassungen verabschiedet, die nicht von einer Handvoll ExpertInnen, sondern von BürgerInnen und ihren Organisationen formuliert wurden. Das dauert, aber das ist Demokratie. Noam Chomsky schreibt in seinem letzten Buch „Hopes and Prospects“: „Heute könnten die Volkskämpfe in Lateinamerika durchaus als Inspiration für andere rund um die Welt dienen, im Rahmen eines gemeinsamen Strebens nach einer Art der Globalisierung, die Gegenstand der Hoffnung aller anständigen Menschen sein sollte.“
Auch ältere Demokratien sind mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. In Kanada spielen indigene Völker eine Schlüsselrolle beim Kampf gegen die Ausbeutung der Ölsande; in Großbritannien war direkte Aktion von Protestierenden mit ein Grund dafür, dass die Regierung auf die Errichtung eines neuen Kohlekraftwerks in Kingsworth/Kent verzichtete.
Die Artikel dieses Themas wurden zuerst im Monatsmagazin „New Internationalist“ (Ausgabe 436/Oktober 2010) veröffentlicht. Wir danken den KollegInnen in Oxford für die gute Zusammenarbeit. Der „New Internationalist“ kann unter der Adresse: Tower House, Lathkill Street, Market Harborough, Leicestershire LE16 9EF, England, U.K., bezogen werden (Jahresabo: 37,85 Pfund; Telefon: 0044/ 171/82 28 99). www.newint.org. Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung der Artikel: Irmgard Kirchner.
Übersetzung: Robert Poth.
Einige solcher Aktionen sind eher symbolisch, aber die radikal andere Art der Organisation ist unübersehbar. Die Aktionen des Netzwerks „Climate Camp“ während des G20-Treffens in London im April 2009 bewiesen allen, die glauben, radikale Demokratie müsste einfach chaotisch und ineffizient sein, das Gegenteil. Tausende PolizistInnen waren dafür abgestellt, die Besetzung einer wichtigen Straße in der Londoner City durch AktivistInnen zu verhindern, hatten aber gegen die „Climate Campers“ keine Chance: Mit spielerischer Erfindungsgabe, militärischer Präzision, Zelten und Fahrrädern übernahmen sie für zwölf Stunden die Kontrolle über Bishopsgate.
Die Konzentration der Macht bedeutet nicht unbedingt Effizienz; das Schöne an verteilter Macht und kollektiver Aktion ist ihre ermächtigende, motivierende und letztlich befreiende Wirkung. Die psychologischen Gründe dafür sind evident – aber vielleicht muss man dabei gewesen sein, um es zu glauben.
Wenn verknöcherte politische Parteien eine realistische demokratische Zukunft haben wollen, müssen sie von den sozialen Bewegungen lernen. Vielleicht schaffen das einige Parteien, die ihre Wurzeln in sozialen Bewegungen haben, bevor sie zu institutionalisiert, zu bürokratisch und auf Machterhalt programmiert sind. Etwa sollte man unbedingt verfolgen, wie sich die jüngsten Spannungen zwischen den sozialen Bewegungen in Bolivien und der Regierungspartei MAS in den kommenden Monaten entwickeln.
Bloß durch die Übernahme der Sprache der sozialen Bewegungen wird man niemandem etwas vormachen können, aber von ihnen zu lernen, das könnte für die Demokratie gut sein und sie vielleicht stärker, lebendiger, attraktiver und reifer machen. Der Impuls zu diesem Reifungsprozess wird paradoxerweise zum Teil von den jungen Menschen kommen, die vom derzeitigen Zustand der Politik die Nase voll haben und schlau genug sind, um die PR-Kampagnen zu durchschauen, mit denen sie „auf den richtigen Weg“ gebracht werden sollen.
„Jugendliche interessieren sich am ehesten für Politik, wenn man nicht ‚Politik‘ dazu sagt“, meint Noel Hatch von Young Compass, einer linken Jugendgruppe. „Sie empfinden eine Machtlosigkeit gegenüber den bestehenden Strukturen, ob politische Parteien oder Gewerkschaften. Aber wenn es Initiativen gibt, die ihnen helfen, ihre Ansichten auszudrücken, dann machen sie mit.“2)
Auf lokaler und nationaler Ebene aktiv zu sein, ist wichtig. Aber ein Gutteil der pro-demokratischen Aktivitäten ist grenzüberschreitend, ermöglicht durch das Internet, und einige der wesentlichsten Aktivitäten stammen aus dem Süden. Die aktuelle Politikverdrossenheit erinnert uns daran, dass Demokratie nichts Statisches ist, nicht bloß ein Haufen Regeln, sondern vielmehr ein Prozess. Sie hat vielleicht nicht einmal ein erreichbares Ziel, etwa im Sinn einer „idealen demokratischen Gesellschaft“ – aber es ist so wie mit der Gleichheit: Sobald man sich dafür einsetzt, verbessert man schon etwas.
Copyright New Internationalist
1) Freedom House, www.freedomhouse.org
2) Libby Brookes, Young people don’t think their vote will make a difference, The Guardian, 6. April 2010
3) Neil Nevitte, Mebs Kanji, Authority Orientations and Political Support: A Cross-National Analysis of Satisfaction with Governments and Democracy, Universität Toronto 2002 (www.worldvaluessurvey.com/Upload/5_Nevitte.pdf)
4) www.opendemocracy.net/charles-barclay-roger/truth-about-public-trust-in-government
5) Noam Chomsky, Hopes and Prospects, Hamish Hamilton 2010
6) Paul Waldman, Boston Globe, 6. Sept. 2006
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