Moderne Seeräuber haben mit dem Mythos säbelfechtender Freibeuter nichts zu tun. In den Zeiten der Globalisierung betreiben Schnellbootkorsare eine boomende Piraterie, die von maritimer Wegelagerei bis zu international organisierter Kriminalität reicht.
Wer Piraten für eine Erscheinung längst vergangener Tage hält und heute allenfalls noch Produktpiraterie oder Biopiraterie kennt, ist auf dem falschen Dampfer. Mit dem Mythos säbelfechtender Freibeuter, mit legendären Figuren wie Klaus Störtebeker und Francis Drake, hat die Seeräuberei heutzutage zwar nichts mehr zu tun. Aber es gibt sie, mit steigender Tendenz. Die moderne Piraterie boomt. Die Angriffe auf Frachter und Tanker haben in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Das International Maritime Bureau (IMB) in London, eine Unterorganisation der Internationalen Handelskammer, zählte 1986, fünf Jahre nach seiner Gründung, weltweit 38 Fälle von Piraterie; 1991 war die Zahl schon auf 107 gestiegen. Und von Jänner bis September des Vorjahres waren es rekordverdächtige 294 Überfälle – bereits fast so viele wie im gesamten Jahr 1999 mit insgesamt 300 Fällen. Der Schaden soll nach einer Schätzung aus dem Jahr 1997 zweieinhalb bis drei Milliarden US-Dollar jährlich betragen.
Dabei werden längst nicht alle Piratenangriffe gemeldet. „Über die Hälfte der Fälle wird nicht berichtet – aus Angst, dass eine Meldung bei den Behörden zu Verzögerungen der Fahrt führen kann“, sagt Noel Choong, der Direktor der IMB-Zweigstelle Piracy Reporting Center in Kuala Lumpur, die 1992 gegründet wurde und durch Spenden von Reedereien und Versicherungsunternehmen Wnanziert wird.
Geografischer Schwerpunkt der Piraterie ist heute Südostasien. Archipelstaaten wie die Philippinen mit 7000 und Indonesien mit 13.000 Inseln bieten hervorragende Verstecke für Piraten und sind nur schwer zu kontrollieren. In Indonesien ereigneten sich im Vorjahr (bis September) mit 90 Fällen fast ein Drittel aller weltweit gemeldeten Angriffe auf Schiffe. „Dort haben sich wegen der wirtschaftlichen und politischen Krise in den vergangenen zwei Jahren viele Fischer der Piraterie zugewandt“, meint Choong.
Eine Zunahme der Piraterie wird auch aus Bangladesch und Indien gemeldet. Weitere Schwerpunkte der modernen Piraterie sind das Rote Meer sowie die Küsten Somalias, Nigerias und Nordbrasiliens.
Besonders gefährlich ist die Straße von Malakka. Die 800 Kilometer lange und an ihrer schmalsten Stelle nur knapp 18 Kilometer breite Hauptschifffahrtsroute zwischen der westmalaysischen Halbinsel und der indonesischen Insel Sumatra ist ein Nadelöhr, das jährlich 30.000 Schiffe passieren. In den ersten neun Monaten des Vorjahres wurden dort bereits 32 Überfälle gezählt. Die Seestraße verbindet die fernöstlichen Exportnationen mit Europa und ist für Japans, Koreas und Taiwans Ölversorgung aus den Golfstaaten wie eine maritime Hauptschlagader.
Es gibt drei Arten von Piraterie“, erklärt Choong vom Piracy Reporting Center. „Neunzig Prozent der Piraten sind Gelegenheitsdiebe, die nach dem Entern stehlen, was ihnen in die Finger kommt: Farbeimer, Taue, Bargeld, den Inhalt des Schiffstresors oder die Habseligkeiten der Crew.“ Meist Wnden die Überfälle in Küstengewässern statt, wenn die Schiffe ankern oder aufgrund nautischer Erfordernisse langsam fahren müssen. Oft schlagen die Piraten mit ihren kleinen, mit keinem Radar sichtbaren Speedbooten im Dunkeln zu.
„Die zweite Gruppe von Piraten ist an der Ladung der Schiffe interessiert“, erklärt Choong weiter. Der Fall des mit Dieselöl beladenen Tankers MT Petchem ist hierfür ein Beispiel. Die Piraten waren über Route und Ladung des Schiffes bestens informiert und hatten sich auf den Diebstahl generalstabsmäßig vorbereitet.
Die dritte Art der Piraterie ist nach der Erfahrung von Choong die gefährlichste: „Die Piraten sind sowohl auf die Ladung wie auf das ganze Schiff aus. Das Schiff wird entführt, die Mannschaft womöglich über Bord geworfen oder in einem kleinen Boot ausgesetzt.“ Das Schicksal der MV Cheung Son und ihrer ermordeten Besatzung ist hierfür ein Beispiel. Choong: „Haben die Piraten die Kontrolle über das Schiff, nennen sie es um und registrieren es vorübergehend unter einer so genannten Billigflagge wie etwa der Staaten Panama, Honduras oder Belize.“ Eine solche Dreimonatsregistrierung sei sehr einfach zu bekommen. Nachdem das umbenannte Schiff in einem Hafen die Ladung gelöscht hat, wird es auf See erneut umbenannt und dann preisgünstig zum Chartern angeboten. Die neue Ladung wird wieder gestohlen. So entsteht ein Kreislauf aus Umbenennung und Diebstahl. Jede Ladung bedeutet einen Verlust von zwei bis fünf Millionen Dollar.
Gestohlene Schiffe unter falschem Namen nennt man Phantomschiffe. Nach Schätzungen des IMB gibt es ein Dutzend solcher Fälle im Jahr. Ein Phantomschiff erwirtschaftet bis zu fünfzig Millionen Dollar jährlich. „Solche Verbrechen werden von Syndikaten begangen, die wie eine Mafia funktionieren“, sagt Noel Choong. Derartige Piraten sitzen in Handelszentren wie Singapur, Hongkong oder Shanghai.
Laut Choong gibt es in Asien mindestens vier Syndikate, die international organisierte Piraterie betreiben. Details möchte er nicht nennen.
Der Hamburger Sicherheitsberater Michael Leibfritz hat da weniger Hemmungen. Für den „Antipiraten-Trainer“ steht fest: „Die Hauptdrahtzieher der organisierten Piraterie kommen aus China. Das sind die chinesischen Triaden, die auch im Menschen-, Waffen- und Drogenhandel stark vertreten sind. Sie haben auch Verbindungen mit der chinesischen Regierung.“ Eine Antipirateriekonferenz in Tokio im vergangenen April endete nur mit unverbindlichen Appellen zur Kooperation. Private Sicherheitsfirmen hingegen machen inzwischen Reedern und Besatzungen handfeste Angebote. Diese reichen von einem Antipiratenkurs auf CD zum Selbststudium über schuss- und stichfeste Schwimmwesten für die Mannschaft bis zur Vermittlung bewaffneter Söldnertruppen zum Schutz der Schiffe. Das International Maritime Bureau, das rund um die Uhr eine Anti-PiratenHotline betreibt, will die Regierungen nicht aus der Pflicht entlassen, selber stärker gegen Piraten vorzugehen. Seit kurzem propagiert das IMB eine neue Technik: ein an Bord versteckter Sender, der über Satellit fünfzehn Mal am Tag den Standort des Schiffes meldet. Die Standortmeldung des Senders kann von der Reederei übers Internet abgefragt werden. Bisher haben aber erst 75 (vor allem japanische) Schiffe einen solchen Sender installiert. Entführt wurde noch keines von ihnen.
Immer wieder taucht gestohlene Ladung in China auf. Die Küste ist für ihren lebhaften Schmuggel genauso bekannt wie die chinesischen Beamten für ihre Beteiligung an illegalen Geschäften. Lange Zeit ging Chinas Regierung nicht gegen Piraterie vor. Doch – wie die Hinrichtung der Piraten der MV Cheung Son zeigt – deutet sich eine Kursänderung an.
Für den Schutz auf hoher See ist demnach die Marine des Landes zuständig, unter dessen Flagge das angegriffene Schiff fährt. Für Schiffe unter Billigflagge bedeutet dies völlige Schutzlosigkeit.
Die britische Firma Anglo Marine Overseas hat 300 ehemalige britische Elitesoldaten eines Gurkha-Regiments im Angebot, die in Gruppen von bis zu acht Personen zur Abschreckung auf Schiffen stationiert werden sollen. Die Gurkhas, Angehörige eines nepalesischen Bergvolkes, das sich durch besondere kriegerische Fähigkeiten auszeichnet und dessen Kämpfer bis heute ein wichtiger Bestandteil britischer Eliteeinheiten sind, sollen nicht bewaffnet sein, sondern potenzielle Angreifer mit Kampfsportarten außer Gefecht setzen. Sie sind vor allem für Kreuzfahrt- und Casinoschiffe vorgesehen.
Der Autor ist Asien-Pazifik-Redakteur der „tageszeitung“ in Berlin.
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