Mit ihren Zeichnungen ermöglicht Xian Zheng neue Perspektiven auf scheinbar vertraute Umgebungen.
Das erste Dorf, das die chinesische Künstlerin Xian Zheng zeichnete, war Gottsbüren in Deutschland. Eine Ortschaft von knapp über 700 Einwohner:innen in der Nähe von Kassel, die mit der Abwanderung junger Menschen zu kämpfen hat. Im Rahmen eines Kunstprojekts hatten sie und ihre Studienkolleg:innen 2015 den Auftrag erhalten, Ideen zu suchen, um Gottsbüren zu beleben. „Ich konnte damals noch kein Deutsch und habe überlegt, was ich für das Dorf tun kann, obwohl ich die Sprache nicht beherrsche. Also beschloss ich eine Karte zu zeichnen“, erzählt Zheng, die zu jener Zeit ein Masterstudium an der Akademie der Bildenden Künste in der südchinesischen Hafenstadt Guangzhou absolvierte und gerade ein Auslandssemester in Deutschland verbrachte.
Blick in Ateliers. Heute steht die Zeichenkünstlerin in ihrem Atelier in Linz, das sie im Rahmen eines Kunstförderstipendiums zur Verfügung gestellt bekam. Ein heller Raum in einem Gebäude nahe des Stadtzentrums, spärlich eingerichtet mit einer Matratze auf dem Boden, einer Staffelei, einem Schreibtisch und einigen Stühlen. An den Wänden hängen Zeichnungen, die Einblicke in die Ateliers verschiedener Künstler:innen geben. Derzeit arbeitet Zheng an einem Bild von Gottfried Helnweins Atelier. Im Sommer 2023 hatte sie den österreichisch-irischen Künstler in dessen Schloss in Irland besucht. Die Zeichenblätter sind mit Klebeband an der Wand befestigt. Aus der Vogelperspektive blickt man auf die Räumlichkeiten und verliert sich schnell in den vielen Details: die Reihen von Bücherregalen, Bilder an den Wänden, verschiedene Möbelstücke, der große Tisch mit den Arbeitsutensilien des Künstlers. „Er hat so viele Pinsel. Ich habe zwei Tage gebraucht, um sie zu zeichnen“, berichtet Zheng. Sie selbst ist bescheiden, was ihre Werkzeuge betrifft, sie benötigt lediglich Bleistift und Papier.
Zheng studierte ursprünglich Architektur und arbeitete in China unter anderem als Innenarchitektin. Zudem ist sie auch Landschaftsplanerin und Computerspiel Designerin. Dieses Wissen mit Kunst zu kombinieren, verschafft ihr mehr Möglichkeiten, wie Zheng sagt: „In der Architektur zeichnet man nur aus einer Perspektive und auch nicht so viele Details. Man will vorrangig die Größe eines Raumes wissen. Ich jedoch will wissen, wie sich die Menschen in den Räumen verhalten, wie ihre Beziehungen zu den Objekten aussehen.“ Menschen sieht man in ihren Zeichnungen allerdings nicht. Stattdessen sollen die gezeichneten Gegenstände etwas über ihre Besitzer:innen aussagen.
Spaziergang auf Papier. Zhengs Bilder ergeben von verschiedenen Seiten betrachtet neue Perspektiven. Einige Objekte wirken daher so, als ob sie Kopf stehen würden. Eine Kirche im oberösterreichischen Scharnstein etwa. Ihr erster Studienaufenthalt in Europa hatte Zheng so gut gefallen, dass sie sich für ein PhD-Studium an der Kunstuniversität Linz bewarb. Seit 2017 lebt sie in Linz, wo sie zunächst ihre Dorfzeichnungen fortsetzte. Ein halbes Jahr dauerte die Fertigstellung einer drei Meter breiten Karte von Scharnstein, die heute im Gemeindeamt ausgestellt ist.
Am Beginn ihrer Arbeiten steht immer ein Spaziergang durch den Ort. Zheng macht dabei Fotos und erstellt Skizzen von beiden Straßenseiten. Später bringt sie die Gebäude so auf Papier, wie man sie von der Straße aus sieht. „Dadurch können die Betrachtenden ihren Blick auf dem Papier spazieren gehen lassen“, beschreibt die Künstlerin das, was sie als multiperspektivisch bezeichnet.
Inspirieren ließ sie sich vom französischen Künstler Paul Cézanne sowie von der traditionellen chinesischen Tuschemalerei. Zheng holt eine Rolle Toilettenpapier hervor, um zu demonstrieren wie letztere funktioniert: „Man sieht nie das gesamte Bild, sondern rollt es nach und nach auf. Es gibt daher keinen zentralen Punkt.“
Smarte Dörfer. Neben Scharnstein zeichnete Zheng im Rahmen eines Kulturfestivals im Jahr 2017 auch die Stadt Marchtrenk. Ebenso wie später bei den Atelier-Zeichnungen, ging es ihr darum zu verstehen, wie Menschen ihre Umgebung nutzen. „Ich wollte erkunden, wie die Menschen hier in Österreich ein Dorf bauen und es mit China vergleichen“, sagt sie. Dafür wählte sie zwei Dörfer im Westen und Norden Chinas und zwei in Oberösterreich, die sich auf dem jeweils selben Breitengrad befinden und topografisch ähnliche Verhältnisse aufweisen. Marchtrenk und Liu Jing Zi sind in wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten zwar sehr unterschiedlich, haben aber auch Gemeinsamkeiten wie die Zeichnungen zeigen. Beide liegen in flachen Regionen und sind blockweise aufgebaut, was bedeutet, dass die Menschen in der Planung einem ähnlichen Muster folgten. Scharnstein und Dong Men Kou hingegen befinden sich in gebirgigen Landschaften. Die Entwicklung dieser Orte orientierte sich an den natürlichen Barrieren und erfolgte entlang der Flüsse.
Die Zeichnungen erzählen noch mehr: „Ich nenne es grafischen Text. Das heißt, Wissen wird auf grafischer Basis vermittelt.“ Etwa über traditionelle Bauweisen und das frühere Dorfleben. Die alten Häuser in Dong Men Kou waren so miteinander verbunden, dass es den Bewohner:innen möglich war bei Gefahr durch die Innenräume das Dorf zu queren. Das Kanalsystem war so angelegt, dass vom Regen- bis zum Abwasser alles in einem Kreislauf genutzt werden konnte. Die Menschen bauten damals smarte Dörfer, schwärmt Zheng – kluge Orte: nicht im digitalen Sinn, wie es heute meist verstanden wird, sondern anhand von traditionellem Wissen. In ihren Dorf-Zeichnungen lässt sich nachvollziehen, wie sich der Alltag der Menschen und ihre Beziehung zur Umwelt entwickelt hat.
Realität und Fantasie. Auch Zhengs Verhältnis zu Linz habe sich verändert. Zu Beginn zeichnete Zheng Orte aus Sicht einer Migrantin, um ihr neues Umfeld kennenzulernen, wie sie sagt. Da sie mit Linz nun vertrauter ist, baue sie als Science-Fiction-Fan nun immer mehr Fantasy-Elemente in ihre Zeichnungen ein: Zum Beispiel, ein Ufo, das über den Hauptplatz schwebt, oder eine zur Rakete transformierte Straßenbahn. Zheng will mit ihren Werken die Menschen dazu inspirieren, ihren Alltag anders zu betrachten: „Vielleicht hilft uns der Blickwechsel neue Lösungen für unsere Sorgen und Probleme zu finden.“
Marina Wetzlmaier ist freie Journalistin und lebt in Wels/Oberösterreich.
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