Die Männer, die La Paz auf ihren Schultern tragen

Von Robert Lessmann · · 2004/04

Es gibt sie noch, die aparapitas von La Paz, die Männer, denen der bolivianische Dichter Jaime Saenz ein literarisches Denkmal gesetzt hat. SÜDWIND-Mitarbeiter Robert Lessmann begab sich auf die Spuren der zeitgenössischen Nachfolger seines Romanhelden.

Es ist 4.30 Uhr morgens, als Felipe Delgados Füße den kalten Zementboden berühren. Seine Lehmziegelhütte bietet nur wenig Schutz gegen die frostigen Temperaturen, die hier oben in El Alto herrschen, der über 4.000 Meter hoch gelegenen Satellitenstadt von La Paz. Felipe ordnet seine Knochen, wie er es nennt, trinkt etwas Wasser mit Sultaninengeschmack, das er auf einem Gaskocher gewärmt hat, und schiebt sich ein Stück Brot von gestern in den Mund. Dann macht er sich auf den Weg, hinunter in den Kessel, la ollada, zu den Märkten von La Paz.
Noch bevor es dämmrig wird, trifft er beim Friedhof die Kollegen, die mit Säcken und Stricken ausgestattet auf die Lastwagen warten, die die Millionenmetropole mit Lebensmitteln versorgen. Hier, am größten Lebensmittelmarkt der Stadt, dürften es etwa 300 aparapitas sein, die sich ihr tägliches Brot verdienen wollen. Um neun, wenn die Marktstände alle eingerichtet und mit Gütern versorgt sind, wird Felipe dann frühstücken, nachdem er ein Universum von Waren durch die engen Gassen des Mercado Rodríguez getragen haben wird: „Von da nach dort“, wie er es nennt.
„Was, so teuer? Bist du vielleicht ein Auto?“, keift Stunden später eine Frau, der er ihre Taschen und Bündel acht Blöcke weit hinunter getragen hat, zur Plaza San Pedro. „Wir verlangen keine festen Tarife“, sagt Felipe. „Und wenn sie uns fragen, sagen wir: ‚Was Ihnen Ihr Gewissen sagt.‘“ Drei Bolivianos, umgerechnet gut fünf Cent hatte er auf wiederholte Nachfrage der Frau für diese Feuerprobe seiner Achillessehnen berechnen wollen. Es gibt keine Schuhsohlen, die das aushalten. Felipe trägt zusammengeflickte Sandalen aus Autoreifen.

El aparapita, „der Tragende“ in der Sprache der Aymara-IndianerInnen, ist zur klassischen Figur geworden. Mit seinem Roman „Felipe Delgado“ hat ihm der kürzlich wieder entdeckte bolivianische Schriftsteller Jaime Saenz ein literarisches Denkmal gesetzt: „Er hatte Flicken in allen Größen und Formen; aus den verschiedensten Stoffen, aber immer in der selben Farbe. Felipe Delgado sah Flicken, so klein wie ein Fingernagel und so groß wie eine Hand; er sah Flicken aus Leder und aus Samt, aus Nesselstoff, aus Flanell, aus Seide, aus Scheuerlappen, aus Wollstoff, aus Segeltuch, aus Gummi, aus Kord und aus Jute, aus Gamsleder, Leinwand und Wachstuch. Er sah Flicken, die waren kreisrund, viereckig, dreieckig und vieleckig, einige hervorragend eingepasst, einige hässlich, andere hübsch, aber alle sehr fest genäht und – selbstverständlich – mit den allerverschiedensten Materialien: Faden, Silsalhanf, Bindfaden, Elektrokabel, Schnürsenkel, Draht oder Lederstreifen. Mit einer Mischung aus Angst und Abscheu sah er in dieser Gemeinschaft von Flicken manchmal ein lebendes Gewebe und er stellte sich vor, dass dies ohne Zweifel der Anblick sein müsse, wie ihn ein Körper bietet, der im Grab verfault.“
Der 1986 verstorbene und inzwischen zum Kultautor avancierte Literat des Todes und der Nacht pflegte sich aristokratisch zu kleiden, bevor er Abends das Haus verließ, um in den boliches (Kneipen) der aparapitas mit ihnen den selbst gebrannten Fusel aus Plastikkanistern zu saufen. Mehr als einmal wachte Saenz morgens in der Gosse auf.

Unser exemplarischer Felipe Delgado des 21. Jahrhunderts ist inzwischen vom Mehlstaub ganz weiß, denn die Ladung hält nicht immer dicht. Zehn Bolivianos, zwanzig Cent, bekam er dafür, dass er einen gewaltigen Mehlsack zu einer Bäckerei oberhalb der Plaza Murillo trug: Zehn Blöcke hinunter zur Plaza San Francisco, dann wieder sieben Blöcke hoch. Kartoffeln, sagt er, seien ihm lieber. Da verteilt sich die Last besser am Rücken. Mehl, Zucker oder Zement bilden eine einheitliche Masse. Kühlschränke, Fernsehapparate und dergleichen sind noch sperriger, aber meist nicht so schwer. Balken schleppen für Baustellen ist sehr attraktiv: „Schwer, aber gut bezahlt“, erzählt Felipe Delgado: „Da muss man nicht den ganzen Tag kreuz und quer durch den Markt rennen.“
Früher habe er das auch gemacht. Aber heute schaffe er es physisch nicht mehr, gesteht er – legt das Gesicht in Falten und schultert mit einem tiefen „huuups“ einen Gefrierschrank: „Das Gleichgewicht ist das Wichtigste, das ist unsere Strategie“, sagt Felipe Delgado.

Hundert Kilo oder mehr laden sich die aparapitas auf, so viel wie ein Pferd. Und selten tragen sie am Ende eines Tages mehr als 60 Bolivianos nach Hause, das ist etwas mehr als ein Euro. Schlechte Ernährung, geringe Muskelmasse, wenig Schlaf und eine herkulische Dauerbelastung für Muskeln, Sehnen und Gelenke können irreparable Schäden verursachen. Ein Unfall, eine Verletzung oder eine Krankheit stellen immer eine existenzielle Bedrohung dar. Jeden Arztbesuch zahlt man aus eigener Tasche. Eine Versicherung gibt es nicht. Obwohl es zum Leben reicht, sind Felipe und seine Kollegen alles andere als zufrieden, besonders nicht, wenn sie wieder einmal „indio de mierda“ geschimpft werden: „Scheißindio!“ „Sie behandeln uns wie Maulesel, als ob wir nicht auch Menschen wären“, klagt Felipe über manche seiner KundInnen.
Um 17 Uhr macht sich Felipe auf den Heimweg. Morgen ist eine Haushaltswarenmesse oben in El Alto, Hochkonjunktur für ihn und seine Kollegen. Andrés bleibt noch: „Ohne Fleiß kein Preis“, sagt er sinngemäß. Er braucht das Geld. Er spart, denn er will oben an der Ausfallstraße eine Reifenflickerei aufmachen.

Der Autor ist freier Mitarbeiter des SÜDWIND-Magazins und lebt in Wien. Er schrieb seine Dissertation zum internationalen Drogenhandel und ist Autor mehrerer Publikationen zum Thema. Er bereiste kürzlich zum wiederholten Male Bolivien. In Kürze erscheint

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