Warum er Hunger als Mord sieht und welche Hoffnungen er in die Zivilgesellschaft setzt, erklärt der renommierte Globalisierungskritiker Jean Ziegler im Gespräch mit Dieter Alexander Behr.
In Ostafrika herrscht eine Hungerkrise. Gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für den G20-Gipfel im Juli in Hamburg. Was erwarten Sie sich von dem Gipfel in Hamburg? Wie kann die Hungerkrise überwunden werden?
Wenn man die bisher stattgefundenen Gipfel ansieht, kann man feststellen, dass jedes Mal Milliarden an Hilfsgeldern für Afrika versprochen worden waren. Doch von diesen versprochenen Hilfsgeldern ist praktisch nichts ausbezahlt worden.
Wenn vom täglichen Massaker des Hungers die Rede ist, müssen zwei Arten des Hungers unterschieden werden: erstens der strukturelle Hunger, zweitens der konjunkturelle Hunger. Der strukturelle Hunger ist das tägliche Massaker, das der Wirtschaftsordnung der Dritten Welt, also den so genannten unterentwickelten Ländern, implizit ist. Afrika ist der am schwersten geschlagene Kontinent. 35,2Prozent der rund eine Milliarde Afrikanerinnen und Afrikaner sind permanent schwerst unterernährt. Die größten Zahlen finden wir in Asien, dort sind es über 650 Millionen Menschen. Laut dem aktuellen Bericht der FAO, der Ernährungs-und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Insgesamt sind eine Milliarde der 7,3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten permanent schwerst unterernährt. Sie haben aufgrund dessen kein Sexualleben, kein Arbeitsleben, nichts; diese Menschen sind verzweifelt, sie haben Angst vor dem nächsten Tag.
Mangelt es an Nahrungsmitteln?
Nein. Derselbe World Food Report, der die Opferzahlen feststellt, sagt nun, dass die heutige Landwirtschaft, wie sie jetzt ist, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der aktuellen Weltbevölkerung. Ein Kind, das in diesem Moment an Hunger stirbt, wird ermordet. Heute gibt es keinen objektiven Mangel an Nahrungsmitteln auf der Welt mehr. Das Problem ist nicht die fehlende Produktion, sondern der fehlende Zugang und die fehlende Kaufkraft.
Dann gibt es noch den konjunkturellen Hunger. Dieser tritt meist in den schwächsten Staaten dieses Planeten auf. Es handelt sich hier um den plötzlichen Totalzusammenbruch einer Wirtschaft: Die Bäuerinnen und Bauern können weder säen noch ernten, die Transportwege sind nicht benutzbar, es kommt zu einer Heuschreckenplage etc.
Die aktuelle Hungersnot ist in Südsudan, in Somalia und im Norden Kenias besonders akut. Außerdem ist Jemen sehr stark betroffen. Laut Welternährungsprogramm sind in diesen Tagen 23 Millionen Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht.
Jean Ziegler
Jean Ziegler, geboren 1934 im Schweizer Thun, ist Soziologe, UNO-Mitarbeiter und Autor. Von 1967 bis 1983 und erneut von 1987 bis 1999 war er Abgeordneter im Schweizer Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei. Er gilt als einer der bekanntesten Kapitalismuskritiker der heutigen Zeit. Seit vielen Jahren setzt er sich für die Menschen ein, die Frantz Fanon „die Verdammten der Erde“ genannt hat. Zunächst als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, dann als Vize-Präsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats kämpft er gegen Hunger und Unterdrückung, für Menschenrechte und Frieden.
Kürzlich erschien Zieglers neuestes Buch „Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden.“ (Verlag C. Bertelsmann, München 2017).
Ziegler ist einer der Redner bei den Protestveranstaltungen zum G20 Gipfel in Hamburg im Juli. D.A.B.
Was sind die Ursachen für die aktuelle Situation?
Erstens sind es die kriegerischen Auseinandersetzungen. Zweitens ist das Welternährungsprogramm praktisch gelähmt. Ich war acht Jahre lang Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung; ich kenne deshalb die so genannten Pledging-Konferenzen in- und auswendig. Diese Konferenzen finden entweder in Rom statt, wo die FAO ihren Sitz hat, oder in Genf. Bei diesen Konferenzen erklären die Verantwortlichen des Welternährungsprogramms die Situation und verkünden, welche Hilfeleistungen in welchen Ländern gebraucht werden. Dieser Vorgang wird Pledging genannt. Die Industriestaaten antworten dann auf diese Anfragen und geben bekannt, wie viel sie geben wollen. Das Ergebnis der Pledging-Konferenz vom 23. März war folgendes: Das Welternährungsprogramm hat vier Milliarden Dollar für die nächsten sechs Monate, also bis September 2017 gefordert und argumentiert, dass das die minimale Summe sei, die für den Abwurf der Hilfsgüter mit Fallschirmen sowie für die Lieferung mit Lastwägen gebraucht würde. Zugesagt wurde dem World Food Programm allerdings nur ein Bruchteil, nämlich 262 Millionen Dollar. Das ist viel zu wenig! Das Todesurteil für Millionen von Menschen ist also am 23. März gefallen.
Warum gestaltet sich die Hilfe so schwierig?
Die Geberstaaten geben vor, eigene Probleme zu haben und sagen, dass sie nicht mehr bezahlen können oder wollen. Zu diesem Missstand kommt schließlich noch hinzu, dass die Veto-Mächte der UNO in den verschiedenen Kriegsgebieten die Handlungsmöglichkeiten der Vereinten Nationen total lähmen.
Hat beim G20-Gipfel in Hamburg die Zivilgesellschaft die Aufgabe, die reichen Staaten davon zu überzeugen, ihrer humanitären Verpflichtung bei den Pledging-Konferenzen nachzukommen?
Mein kürzlich erschienenes neuestes Buch trägt den Titel „Der schmale Grat der Hoffnung“. Der Grat ist schmal, aber die Hoffnung ist reell. Die Zivilgesellschaft, diese mysteriöse Bruderschaft der Nacht, die aus all den vielfältigen Bewegungen zusammengesetzt ist, aus den Kirchen, den Gewerkschaften, den NGOs, die an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung und gegen die Staatsraison Widerstand leisten, diese Zivilgesellschaft ist das neue historische Subjekt. Sie ist die Hoffnungsträgerin. Die Zivilgesellschaft hat kein Parteiprogramm, keine Parteilinie und kein Zentralkomitee. Sie funktioniert nur nach dem kategorischen Imperativ. Menschen aus allen sozialen Klassen, Religionen und Altersgruppen kommen hier zusammen.
Immanuel Kant hat gesagt: Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. Es geht schlicht um das Identitätsbewusstsein: Ich bin der andere, der andere ist ich. Diese einfache Feststellung ist der Motor des zivilgesellschaftlichen Aufstandes.
Che Guevara hat gesagt: Die stärksten Mauern fallen durch Risse.
Und was ist die Rolle der staatlichen Politik?
Die kannibalische Weltordnung wird fallen – jedoch nicht weil die Staatschefs erwachen: Die Präsidenten der G20 – Donald Trump, Angela Merkel usw. – sind überdeterminiert durch die Befehle, die Strategien und den Willen der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Diese Oligarchien haben eine Weltdiktatur errichtet: Laut Weltbankstatistik vom letzten Jahr haben die 500 größten transnationalen Privatkonzerne aus allen Sparten, Industrie, Finanzsektor usw. 52,8Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert, also mehr als die Hälfte aller auf der Welt produzierten Reichtümer. Sie entschwinden jeglicher sozialstaatlicher, gewerkschaftlicher oder parlamentarischer Kontrolle. Diese Konzerne beherrschen den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt. Sie haben ein einziges Aktionsprinzip und eine einzige Strategie, und zwar die Profitmaximierung in möglichst kurzer Zeit. Konzerne haben heute eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, nie ein König zuvor auf diesem Planeten gehabt hat; sie sind stärker als alle Staaten.
Die Staatschefs der G20 sind lediglich Wasserträger, Gehilfen und Ausführer der Interessen der Konzerne. Sie sind Komplizen der Privatunternehmen, keine autonomen Staatsdenker. Doch ihnen gegenüber gibt es nun ein neues historisches Subjekt, nämlich die planetarische Zivilgesellschaft. Sie wird in Hamburg präsent sein. Ich selbst werde auch kommen und sprechen. Hamburg ist der Ort, an dem der Widerstand formiert wird.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Welche politischen Forderungen würden Sie gerne unmittelbar durchsetzen?
Sicher ist, dass die Reformen der UNO, die Kofi Annan ausgearbeitet hat, umgesetzt werden müssen. Dafür werde ich weiterkämpfen. Kofi Annan ist 2006 aus dem Generalsekretariat geschieden. Er hat ein wichtiges Testament hinterlassen: einen Reformplan für den Sicherheitsrat. Annan hat im Jahr 2006 gefordert, dass das Vetorecht nicht mehr zur Anwendung kommen dürfe, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Diese Verbrechen sind im römischen Statut von 1998, das die Grundlage für die Arbeit des internationalen Strafgerichtshof bildet, genau definiert. Der Reformvorschlag von Kofi Annan verschwand jedoch in den tiefsten Schubladen der UNO in New York. Die Veto-Mächte sträubten sich damals mit allen Mitteln gegen die Annan-Reform.
Doch seit kurzer Zeit werden diese Pläne wieder aus der Schublade geholt. Denn der fürchterliche Krieg in Syrien produziert schreckliche Konsequenzen im Herzen der Veto-Mächte. Die dschihadistischen Mörder, die ein Produkt des Syrien-Krieges sind, töten in München, in Brüssel, Paris oder St. Petersburg. Ein zweiter Grund für die beginnenden Reformbemühungen sind die fünf Millionen Flüchtlinge, die dieser fürchterliche Krieg produziert hat, und die in der EU Einlass suchen. Das Drängen auf eine Reform des Sicherheitsrates wird also stärker.
Also eine positive Entwicklung in Richtung Reform …
Parallel zu diesen Entwicklungen muss man allerdings feststellen, dass das Asylrecht in Europa immer mehr mit Füßen getreten wird. Hier tun sich vor allem die Regierungen in Osteuropa negativ hervor. Die EU sieht tatenlos zu, obwohl sie es in der Hand hätte, Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Polen usw. zur Vernunft zu bringen. Die EU müsste sich nur dazu durchringen, die Solidaritätszahlungen an diese Länder zu stoppen. Das Agieren der EU ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ihre Politik beruht auf Abschreckung. Offiziell gibt man es zwar nicht zu, doch man rechnet damit, dass weniger Flüchtlinge nachkommen werden, wenn Menschen an den Stacheldrahtzäunen der EU-Außengrenzen sterben oder im Mittelmeer ertrinken. Dieses Kalkül ist jedoch erstens objektiv falsch und zweitens moralisch absolut unhaltbar.
Dieter Alexander Behr ist Übersetzer, Journalist und Lektor an der Universität Klagenfurt und an der Universität Wien.
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