Fast alles im Gesicht von Machtabbudin Chawari weist darauf hin, dass er in den letzten zwei Jahren eine schwere Zeit durchgemacht hat: die Mundwinkel, die Lider und die Augen zeigen nach unten, die Mimik ist unsicher und matt. Auch wenn auf seine Backen wieder die erste Röte zurückgekehrt ist, sieht sein Gesicht noch fahl aus, und der erst zarte Flaum auf dem Kinn und der Oberlippe erinnert daran, dass es noch etwas früh ist für den 17-Jährigen, ein solch verlebtes Gesicht zu haben.
Machtabbudin wirkt deshalb so betäubt, weil er Ersatzdrogen für das Heroin bekommen hat, von dem er zwei Jahre lang abhängig war. Mit einer Busfahrkarte in der Tasche, begleitet von einem Nachbarn, ist er hierher nach Feisabad, in die Nordostecke Afghanistans, gekommen, in eine von fünf Entzugskliniken, die es inzwischen im Land gibt.
In diesem Frühjahr und Sommer blühte der Schlafmohn in mehr Provinzen des Landes als je zuvor. Doch über das Thema Drogensucht, das eng damit zusammenhängt, hört man so gut wie nichts. Nur: Das Land macht sich damit etwas vor. Denn Hauptleidtragender der Opium-Schwemme ist nicht mehr der Westen, sondern Afghanistan selbst. Nach einer Untersuchung der afghanischen Hilfsorganisation „Focus“ sind von rund einer Million Menschen in der Badachschan-Provinz, deren Hauptstadt Feisabad ist, bis zu 100.000 opiumabhängig. Die karge Provinz im Pamir-Gebirge ist sicherlich die am schlimmsten betroffene Region Afghanistans, aber auch auf das ganze Land bezogen erscheint die Zahl der Süchtigen enorm.
Die britische Tageszeitung „The Guardian“ zitierte kürzlich einen CIA-Bericht, in dem die Zahl der Drogenabhängigen in Afghanistan auf bis zu eine Million Menschen geschätzt wird – also rund vier Prozent der Bevölkerung.
Zu den Gründen dafür schreibt die UN-Organisation gegen Drogenmissbrauch und Verbrechen (UNODC) in einer Untersuchung vom vergangenen Jahr, dass in Afghanistan Opium traditionell als Schmerz- und Arzneimittel verwendet wird. Seit dort jedoch im Bürgerkrieg in den 1980er Jahren Schlafmohn im großen Stil angebaut wurde, um den Kampf der Mudschahedin gegen die sowjetische Armee zu finanzieren, hat die Zahl der Opium-Süchtigen rapide zugenommen. In den vergangenen zwei Jahren, schreibt die UNODC, sei auch die Zahl der Heroin-Abhängigen in Afghanistan sprunghaft angestiegen. Zumeist handle es sich um Flüchtlinge, die aus Iran und Pakistan zurückgekehrt seien, wo sie abhängig geworden waren.
Ein anderer Fall aus Badachschans Osten illustriert diese Einschätzung. Abdurasul Chulom, 56 Jahre alt, raucht seit 16 Jahren Opium. Er habe sich gestern den Magen verdorben, sagt er, und sitzt deshalb in eine schmutzige Decke eingehüllt auf einem Lager in seinem Wohnzimmer, das gleichzeitig als Amtszimmer und Opiumhöhle dient. An den Wänden hängen Plakate, die für die afghanischen Wahlen im Oktober werben, denn Khulom ist gleichzeitig Bürgermeister der 750 Seelen-Gemeinde Chermany, fünf Kilometer von Ischkaschem im Nordostzipfel Afghanistans entfernt.
Er erzählt: „Wir hatten kein Krankenhaus, und ich hatte starke Rückenschmerzen. Jeder, den ich fragte im Dorf, sagte mir: „Da wir keinen Doktor haben, nimm doch etwas Opium, dann wirst du gesund.“ Nachdem er ein paar Mal geraucht habe, sagt er, war er schon abhängig. Aber wusste er denn damals nicht, dass Opium süchtig macht? Der Dorfvorstand hebt verärgert die Stimme: „Oh nein, wovon reden Sie! Auf keinen Fall! Niemand wird Ihnen sagen, dass Opium schädlich ist und dass Sie es nicht nehmen sollten. Niemand ist hier zur Schule gegangen.“
In Bürgermeister Abdurasuls Dorf Chermany wird Opium wohl schon lange geraucht. Vor 170 Jahren hat einer der traditionellen Herrscher der Region die Droge zum ersten Mal aus dem Westen Chinas einführen lassen. „Weil der Genuss so eng mit der Familie des Herrschers verbunden war und bald auch mit den religiösen Autoritäten, hat sich der Gebrauch so weit in der Ismaili-Region verbreitet“, erklärt der Arzt und Historiker Schams Ali Schams. In der Region, wo Afghanistan, Tadschikistan, China und Pakistan aneinanderstoßen, leben fast ausschließlich Ismailis, Anhänger einer schiitischen Sekte.
Auch in Chermany leben Ismailis. Bürgermeister Abdurasul schätzt, dass in seinem Dorf jeder dritte Erwachsene abhängig ist. Und wohl auch Kinder – wie er selbst zugibt: „Wir benutzen Opium, wenn wir krank werden, wenn wir keine Arznei haben, wenn unsere Kinder weinen oder schreien“, sagt er mit einem schelmisch wirkenden Funkeln in den Augen.
„Die Mütter denken, dass ihre Kinder sterben werden. Sie denken, sie leiden unter Verstopfung, Bauchschmerzen oder ähnlichem. Wenn die Mütter abhängig sind, blasen sie den Kindern selbst Opium-Rauch in den Mund. Wenn nicht, finden sie jemand, der abhängig ist und es macht.“
Machtabbudin dagegen hat nun wieder die Chance, vom Heroin loszukommen. Zur Schule ist er damals nur bis zur fünften Klasse gegangen, weil die Taliban seine Heimatstadt Talokan, 150 km westlich von hier, eingenommen und alle Schulen geschlossen hatten. Danach fing er an, als Helfer auf dem kleinen Lastwagen seines Vaters zu arbeiten. So lernte er den Nachbarsjungen Dschawad kennen, der damals fünfzehn war und wie Machtabbudin auf LKWs mitfuhr. Vor zwei Jahren hat er zum erstenmal mit ihm „den Drachen gejagt“ – wie Heroinrauchen in Afghanistan heißt. Damals war Machtabbudin jedoch nicht klar, worauf er sich einließ: „Ich wusste nicht, dass es abhängig macht. Ich dachte, es ist wie Zigaretten rauchen. Außerdem mochte ich es. Es schmeckte so gut, und ich fühlte mich so stark. Ich dachte, ich könnte unseren Lastwagen umwerfen.“
Es wirkt glaubwürdig, wenn Machtabbudin erzählt, dass er nicht um die Gefahren des Heroins wusste. Und der Leiter der Klinik, Jakubi Mohamed, pflichtet ihm auch bei: „In den Schulen wird bei uns nicht vor Drogen gewarnt, und vom Islam sind sie streng verboten. Deshalb gibt es so gut wie keine Aufklärung über ihre Gefahren.“
Schon nach kurzer Zeit begannen für Machtabbudin die Probleme. Er hörte auf zu arbeiten und fing an, die Einrichtung seiner Eltern, den Fernseher, den Kassettenrekorder und ihre Teppiche zu verscherbeln. So wurde das Verhältnis zu seiner Familie immer angespannter: „Ich war in einer sehr schwierigen Lage. Ich weinte sehr oft. Meine Eltern drängten mich, mit den Drogen aufzuhören und beteten zu Gott, diejenigen zu bestrafen, die das Heroin entdeckt haben. Mein Vater lehnt mich ab wegen meiner Sucht. Er spricht nicht mit mir, wir essen in zwei verschiedenen Räumen. Nur meine Mutter, sie ist Lehrerin, hat Mitleid mit mir und hat mir zehn Dollar gegeben für die Fahrkarte hierher.“
Seit sein Freund Dschawad gestorben war, sagt Machtabbudin, wussten seine Eltern nicht mehr, was sie tun sollten: „Dschawad war fünfzehn Tage in einem Badezimmer eingesperrt. Dort starb er. Seine Eltern sperrten ihn ein, um ihn abzuhalten, Heroin zu nehmen, aber er starb, weil er die Droge nicht bekam. Deshalb wollten mich meine Eltern nicht ebenso einsperren.“
Machtabbudin ist nun wieder hoffnungsvoll und hat sich feste Vorsätze gemacht. Zur Schule will er nicht mehr gehen, sondern ein Handwerk erlernen: „Ich möchte arbeiten und meinen Kopf beschäftigen. Und ich werde mich niemals mit jemandem treffen, der drogenabhängig ist. Ich werde ihn nicht einmal grüßen. So wie ich mich verändert habe, werden meine Eltern sehr froh sein, mich zu sehen. Mein Vater wird wieder mit mir reden und wird mich bitten, zusammen mit ihm zu essen. Wahrscheinlich wird er mir helfen, einen Job zu finden.“
Der Opium-Boom
Nach der Vertreibung der Taliban-Regierung im Herbst 2001 boomt nun wieder der Schlafmohn-Anbau in Afghanistan. Die Einkünfte aus dem Drogenanbau und -handel werden für das vergangene Jahr auf die Hälfte seines Bruttosozialproduktes geschätzt, und drei Viertel des weltweit erhältlichen Opiums und Heroins kommen von dort. In dem neuen, jährlich im September veröffentlichten „Opium-Report Afghanistan“ der in Wien ansässigen UN-Organisation gegen Drogen und Verbrechen (UNODC) wird erwartet, dass die diesjährige Ernte fast den Höchstwert von 1999 erreichen wird.
Hamid Karzais Regierung hat ein 10-Jahres-Programm verabschiedet, an dessen Ende die Pflanze in Afghanistan nicht mehr angebaut werden soll. Bisher reichte ihre Macht über das Land jedoch nicht aus, um über die symbolische Vernichtung einiger Schlafmohnfelder hinaus konkrete Schritte gegen den Drogenanbau zu unternehmen.