Die Heilige von Kaschmir

Von Redaktion · · 2017/06

Die über achtzigjährige spirituelle Heilerin und Sufi-Meisterin Zub Sahib genießt im konservativ-muslimischen Kaschmir hohes Ansehen. Ein Porträt von Eva Maria Teja Mayer.

Blutige Revolten, Ausgangssperre: Ausnahmezustand im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Ein Grund, zu Hause zu bleiben? Nicht für Zub Sahib! Die betagte, grazile Frau ist gern im Auto unterwegs, besucht Sufi-Schreine und FreundInnen. „Wohin fahren wir heute?“, schmunzelt sie und steigt in den Wagen eines Besuchers. Zub Sahib im Auto herumzuführen gilt als große Ehre. Unbekümmert und energisch dirigiert sie ihren Fahrer durch Proteste und Sicherheitssperren, Demonstranten und Polizisten.

Bei jedem Halt strömen Menschen herbei, berühren Zub Sahib, sprechen mit ihr. Sie selbst sagt nicht viel, sie handelt spontan, immer mit einem Lächeln und Augenzwinkern. Ihrem Charme widersteht kaum jemand. Von einer Frau erbittet sie sich erfolgreich den Schal, von einer anderen den Armreifen, von einem Mann ein Notizbuch. Dem Nächsten, einem Mann in Lumpen, überreicht sie zwei ihrer eigenen Schals, er kann sein Glück kaum fassen. Ein Ehepaar eilt mit einer entzündeten Shisha für Zub Sahib herbei, die Wasserpfeife gilt als Markenzeichen der betagten Dame.

Rat & Hilfe. Zub Sahib wird als Heilige verehrt. Menschen suchen bei ihr Rat und Hilfe in allen Lebenslagen. An einem Kontrollposten winkt sie einen Soldaten zu sich. Der begreift intuitiv, mit wem er es hier zu tun hat, bekundet seinen Respekt, überlässt ihr sogar seine Kappe. Den nächsten Wachposten ersucht sie um Helm und Gewehr. Als er mit gefalteten Händen um Verständnis fleht, gibt sie sich mit seinem Kugelschreiber zufrieden. Ihr Fahrer folgt genau ihren Anweisungen und hält an, wenn sie es sagt: einmal, weil sie am Straßenrand eine leere Flasche sieht, dann einen Stofffetzen. Was sie will, wird eingesammelt und später an BesucherInnen verteilt. Genauso hält es Zub Sahib mit Schmuck oder Kleidung: „Kleidertausch einander fremder Menschen ist ihre spezielle Behandlungsmethode“, erklärt ihr Enkelsohn Umar, der Zub Sahib begleitet. Ihr Tauschen sei ein Kreislauf zur spirituellen Heilung, erklärt er. „In der Nacht meditiert und betet sie dafür.“

Lebendiger Sufismus. Im Himalaja-Tal von Kaschmir ist die Sufi-Tradition bis heute lebendig. Sufismus ist die mystische, nach innen gewandte Richtung des Islam. Das höchste Ziel: in Liebe mit der Gottheit zu verschmelzen. Manche Sufis leben asketisch, andere haben Familie und Beruf; der Sufi-Weg steht auch Frauen offen. Die respektvolle Anrede „Sahib“ gilt an sich nur für Männer, man gewährt sie – sowie den Titel „Pir“ – aber auch Sufi-Meisterinnen. Lehre und Popularität vieler Sufi-Pirs werden vom orthodoxen Islam oft kritisiert und von islamistischen Terroristen bekämpft.

Große AnhängerInnenschaft. Zub Sahib stammt aus dem Pilgerort Charari Sharief, in dem der Nationalheilige Kaschmirs, Sheikh Nur-ud-Din Wali, der im 15. Jahrhundert lebte, begraben liegt. Zub Sahib wurde mit 14 Jahren verheiratet. „Ich erinnere mich an meine Mutter, als sie tagelang allein im Wald umherstreifte“, erzählt Tochter Gulshan. „Sie war so anders – furchtlos und unbeirrt!“ Solch Verhalten steht im Widerspruch zum traditionellen Frauenbild und hat im konservativ-muslimischen Kaschmir oft gesellschaftliche Ächtung zur Folge. Zub Sahib trotzte den Zwängen, meditierte lange in den Wäldern. Heute gilt ihr Wort bei Familie und Anhängerschaft als Gesetz. MuslimInnen zählen ebenso dazu wie Hindus und Sikhs.

Segen zum Essen. Man konsultiert Zub Sahib gern bei Problemen mit Gesundheit oder Job. Die Erfolgsquote bei Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch liege hoch, sagt man. Seit einigen Jahren lebt sie bei einem Neffen am Stadtrand von Srinagar, der Hauptstadt von „Jammu und Kaschmir“. Frühmorgends nimmt sie in der Empfangshalle auf einem Lager aus Kissen Platz. Wie eine wohlwollende Fürstin empfängt sie Familienmitglieder und BesucherInnen. In der Halle sind knapp über Kopfhöhe kreuz und quer dicke Seile gespannt, an einigen hängen Kleidungsstücke. Das Ganze wirkt wie das Netz einer Riesenspinne, die Bedeutung kennt nur Zub Sahib. Ihre BesucherInnen bringen Obst, Brot oder Süßigkeiten mit, das meiste wird sofort verteilt. Reicht Zub Sahib einen Keks oder ihren angeknabberten Eislutscher, gehört es sich, ihn aufzuessen – mit „Tabruk“, heiliger Speise, schenken Sufi-Pirs ihren Segen. Nach dem Morgenempfang steigt Zub Sahib wieder ins Auto – wohin es diesmal geht, wird sie während der Fahrt sagen.

Eva Maria Teja Mayer lebt als freie Autorin und Journalistin in Wien. Reisen und Feldforschungen vor allem in Asien. Den letzten Sommer verbrachte sie im Tal von Kaschmir.

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