Als Voraussetzung für die Friedensverhandlungen in Kolumbien überließ die Regierung der größten Guerillaorganisation FARC ein österreichgroßes Gebiet im Südosten des Landes. Aus dieser so genannten
Der 41-jährige Fernando, seit einem Vierteljahrhundert in der Guerilla in den „kolumbianischen Bergen“, ist der Beauftragte der FARC für die Sicherheit in dem Städtchen San Vicente del Caguán, der größten Gemeinde in der „Entspannungszone“ am Rande des Amazonasbeckens. Im Januar 1999 hatte die Regierung von Präsident Pastrana der größten und ältesten lateinamerikanischen Guerilla ein Gebiet von der Größe Österreichs überlassen, um den Weg zu Friedensverhandlungen frei zu machen. Seither bewegen sich die Guerilleros in ihren grünen Tarnanzügen unangetastet durch das „Friedenslabor“ von San Vicente de Caguán.
Comandante Fernando verliest die neuesten Nachrichten aus dem Städtchen, kommentiert die Ereignisse der Woche und verkündet Mitteilungen der FARC-Führung zum Friedensprozess. Ende Januar konnte er eine ganz besondere Ankündigung machen: Führende FARC-Vertreter, darunter die Verhandlungsführer aus San Vicente, würden sich auf den Weg nach Europa machen, um das skandinavische Sozialsystem kennen zu lernen und Erfahrungen für den Friedensprozess in Kolumbien zu sammeln. Fernando erklärt das als großen Erfolg der Guerilla bei den Verhandlungen in San Vicente.
Obwohl das Mikrofon von Comandante Fernando auch für die ZuhörerInnen offen ist, macht fast niemand Gebrauch davon. „Die Leute haben Angst, ein Mikro der Guerilla zu benutzen, ohne zu wissen, wer zusieht oder zuhört“, erklärt er. „Wenn wir aber Radiosendungen mit Hörerbeteiligung in einem lokalen Sender veranstalten, reicht die Zeit nie für die vielen Fragen und Kommentare aus.“
Die Unsicherheit der Menschen sitzt tief. Zwar wurde der Armeeabzug aus San Vicente und weiteren vier Gemeinden zunächst auf unbestimmte Zeit für die Dauer der Friedensgespräche verlängert, aber niemand weiß, wann die Armee zurückkommt und welchen Repressalien jene Menschen ausgesetzt werden, die mit den Guerilleros in Kontakt stehen oder sich bei ihren Veranstaltungen äußern.
Von Anfang an rankten sich viele Spekulationen und Gerüchte um die „Zona de despeje“ im Südosten Kolumbiens. Auf der Suche nach Sensationen berichteten einige Zeitungen über vielfache Verbote der FARC nach ihrem Einzug: Männer dürften in ihrem Einflussbereich weder Ohrringe noch lange Haare tragen, Diskotheken würden geschlossen, eine strenge Sperrstunde eingeführt und überhaupt alles verboten, was Spaß macht.
Tief verwurzelte Vorurteile der kolumbianischen Gesellschaft wurden befriedigt, mit der Realität hatte das aber wenig zu tun. Comandante Joaquín Gómez, einer der drei Verhandlungsführer in der Entspannungszone, schmunzelt bei dem Gedanken an die Horrormeldungen über das Regime der FARC. „Wir haben wirklich herzlich gelacht über das, was wir in den Zeitungen lasen. Mit solchen Bagatellen können wir uns gar nicht befassen, da gibt es viel wichtigere Dinge zu tun.“
Von einem strikten Regime ist in San Vicente in der Tat wenig zu spüren. Der Umsatz der meisten Geschäfte ist nach kurzer Flaute steigend, die wenigen Hotels und Restaurants freuen sich über die vielen Journalisten und Regierungsfunktionäre, die das Städtchen aufgrund seiner politischen Sonderstellung anzieht.
Auch nach dem Einmarsch der Guerilla ist die im Volksmund und zu Recht „Sauna“ genannte Diskothek schräg gegenüber der Kathedrale jeden Samstagabend brechend voll. Junge und nicht mehr ganz so junge Leute schwitzen bis tief in die Nacht im Rhythmus von Salsa, Merengue und Cumbia.
Das einstige Kulturhaus des Viehzüchterstädtchens, in dem gerade von iranischen Investoren ein modernes Schlacht- und Kühlhaus gebaut wird, hat dagegen eine neue Bestimmung bekommen. Heute beherbergt es die Beschwerdestelle der FARC, die gleichzeitig als Anlaufstelle für Journalisten dient, die aus allen Teilen der Welt nach San Vicente kommen und mit den FARC Kontakt aufnehmen wollen. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Drinnen nimmt Compańera Nora die Klagen der BürgerInnen entgegen. „Wir versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden,“ erklärt sie in einer kurzen Pause. „Die Menschen kommen freiwillig, wenn wir sie zitieren, und sie akzeptieren unsere Urteile.“
Die Guerilla hat heute in vielen Bereichen öffentliche Aufgaben übernommen. Die Kontrolle der öffentlichen Sicherheit obliegt jedoch formal der eigens gegründeten Zivilpolizei, die nur mit Schlagstöcken bewaffnet durch San Vicente patrouilliert, Auseinandersetzungen schlichtet und Verkehrssünder zur Kasse bittet. „Größere Probleme hat es noch nicht gegeben“, meint deren Leiter, „aber die Arbeit ist nicht ganz ungefährlich“.
Oberster Dienstherr der Zivilpolizei und gleichzeitig höchste Autorität in der Gemeinde ist Bürgermeister Omar García. Geschickt nutzt er das große Interesse im In- und Ausland am kolumbianischen Friedensprozess, um vor allem in Europa Geld für Infrastrukturprogramme locker zu machen. „Der Entmilitarisierungs- und Friedensprozess bietet uns eine riesige Chance, die traditionelle Rückständigkeit und die Vernachlässigung durch die Zentralregierung zu überwinden“, erklärt er. „Wir bauen dabei auch auf die Unterstützung der Guerilla, die auf allen Ebenen Einfluss auf die Geschicke des Städtchens nimmt.“
Einen Widerspruch zum Gemeinwohl und der kolumbianischen Verfassung mag er darin nicht erkennen. Nur in der Frage der Rechtsprechung durch die Guerilla ist er skeptisch und sieht die juristischen Laien ungern im Richteramt. So wie die meisten Bürger des Städtchens zollt er indes den Aufständischen Anerkennung auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung. „Ganze sechs Menschen sind seit ihrem Einmarsch ermordet worden – so viele starben zuvor jede Woche eines unnatürlichen Todes.“ Dieses Phänomen ist in vielen Gebieten unter FARC-Kontrolle zu beobachten. „Die Guerilla hat in diesen Regionen praktisch staatliche Aufgaben übernommen“, bestätigt Diego Pérez, der stellvertretende Leiter des jesuitischen Forschungsinstituts CINEP in Bogotá, die ausgeprägte Verankerung der Aufständischen in der Zivilbevölkerung. „Sie wendet Recht an, auf ihre Art, aber sie übernimmt die Rechtsprechung. Sie schlichtet Konflikte, löst alltägliche Probleme der Gemeinden und ist eine Art Beschützer der Bevölkerung gegenüber externen Angreifern.“
Damit sind in erster Linie die kolumbianische Luftwaffe und die US-amerikanische Drogenpolizei DEA und deren regelmäßige Giftsprühaktionen gegen Koka- und Mohnpflanzungen gemeint. Die FARC kontrollieren mit ihren 15.000 Kämpfern weite Teile des kolumbianischen Amazonasbeckens mit ausgedehnten Drogenanbauflächen. Ein besonderer Dorn im Auge der Drogenwächter aus den USA ist seit Jahresfrist die Entspannungszone um San Vicente. Seit dem endgültigen Abzug der kolumbianischen Armee aus San Vicente malen sie den Teufel einer unkontrollierbaren Expansion des Drogenexports aus diesem Gebiet an die Wand und bezichtigen die so genannte Narco-Guerilla, die „Zona de despeje“ als militärisches Aufmarschgebiet und Zentralstelle für den Kokaexport zu missbrauchen.
Der Vertreter des UN-Drogenprogramms in Kolumbien, Klaus Nyholm, widersprach allerdings dieser Behauptung. Die Drogenproduktion habe dort seit dem Abzug der Armee keineswegs zugenommen, konstatierte er im Juli. Der UN-Experte schrieb den Vertretern des harten Kurses noch etwas anderes ins Stammbuch: In Kolumbien brauche es mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen.
Der Autor verbrachte zu Studienzwecken kürzlich ein halbes Jahr in mehreren lateinamerikanischen Ländern. Er lebt als freiberuflicher Journalist und Fotograf in Berlin.
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