Die große Frage

Von Chris Brazier · · 2006/06

Ist das Leben heute besser als vor zehn Jahren? Die BewohnerInnen von Sabtenga sagen „Ja“. Und das Ausmaß der Verbesserungen übertrifft alle Erwartungen.

Vor zehn Jahren wäre ich zu Fuß zu diesem Treffen gekommen, aber heute bin ich mit dem Rad gefahren. In zehn Jahren komme ich vielleicht auf einer Mobylette“, erzählt eine Frau in der ersten Reihe lachend. Vor zehn Jahren waren Frauen und Mädchen auf Rädern tatsächlich selten, und vor 20 Jahren waren Räder eine ausschließliche Domäne der Männer, die heute eher eine Mobylette (ein Mofa) oder ein Motorrad besitzen.
Ich nehme an einer großen Versammlung teil, die von Dakupa, einer lokalen Nichtregierungsorganisation (NGO) einberufen wurde und an der VertreterInnen von Dörfern aus der ganzen Provinz Boulgou teilnehmen. Genau eine solche Versammlung versuchte ich – vergeblich – schon vor zehn Jahren zu organisieren, und sie kommt wie gerufen, um die große Frage zu stellen, die meinem ganzen Besuch zugrundeliegt: „Ist das Leben heute besser als vor zehn Jahren?“
Die unzähligen Antworten scheinen sich zu einem lauten „Ja“ zu vereinen: „Es gibt jetzt viel mehr Pumpen … wir müssen das Wasser nicht mehr so weit tragen … Es gibt jetzt Latrinen in jedem Dorf … Die Leute haben viel mehr Ahnung von Hygiene … Mehr Kinder können zur Schule gehen, vor allem mehr Mädchen … Mehr von uns können in der eigenen Sprache lesen und schreiben … Wir können unsere Verwandten im Ausland anrufen und müssen nicht auf einen Brief von ihnen warten … Vor zehn Jahren hätten Frauen nicht neben Männern in einer solchen Versammlung sitzen können … Es gibt mehr Kliniken in den Dörfern.“
So geht es während meines gesamten Aufenthalts weiter. Auf meine Frage, ob das Leben besser oder schlechter als vor zehn Jahren sei, erhalte ich stets die selbe Antwort: Es ist besser. Insgesamt, auf Ebene der Gemeinschaft, scheinen sich die Verhältnisse in einem Ausmaß verbessert zu haben, wie ich es niemals erwartet hätte.

Zum Beispiel Wasser. Vor 20 Jahren war das Wasserholen für alle Frauen im Dorf eine mühsame und zeitraubende Arbeit. Sie mussten das Wasser mit Eimern aus dem Brunnen schöpfen; war der Wasserkessel voll, war er so schwer, dass es zwei Leute brauchte, um ihn auf den Kopf zu heben. Dann folgte oft ein langer Weg zurück vom Brunnen, denn die zuverlässigen Wasserstellen waren sehr dünn gesät, und das Ganze musste vielleicht viermal wiederholt werden, bis es genug Wasser zum Waschen und Kochen gab.
Vor zehn Jahren war es kaum besser, obwohl es mittlerweile einen Gemeinschaftsbrunnen mit einer Pumpe gab, was die Arbeit erleichterte und die Gefahr einer Verschmutzung des Wassers verringerte. Nun aber hat sich die Situation wirklich verändert. 2002 wurde im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Umwelt- und Wasserministerium in Burkina Faso und einer deutschen NGO allen Familien in Sabtenga angeboten, neben ihrem Gehöft einen Pumpenbrunnen zu bohren. Zenabou und Adama zeigen mir stolz ihren Familienbrunnen und die zugehörige Eigentumsurkunde, aus der klar hervorgeht, dass sie selbst für allfällige Reparaturen verantwortlich sind. Es gab aber eine Bedingung: Jede Familie musste einen Kostenbeitrag von 150.000 Francs CFA1 (rund 230 Euro) leisten.
Im Vergleich zum Nutzen scheint dieser Kostenbeitrag relativ gering zu sein. Aber in einer Gemeinschaft, die von Subsistenzlandwirtschaft lebt, sind 230 Euro eine gewaltige Summe, die viele Haushalte im Dorf nicht aufbringen konnten, auch der von Mariama und Issa nicht. Trotzdem ist es heute für alle viel einfacher, sich mit Wasser zu versorgen, denn selbst die Familien, die sich keinen eigenen Brunnen leisten konnten, können den nächstgelegenen Brunnen benutzen. Dafür zahlen sie eine Miete von täglich 5 Francs CFA – monatlich 23 Eurocent. Wahrscheinlich gibt es keine einzige Neuerung, die für sich allein das Alltagsleben derart erleichtert wie ein Brunnen mit einer Pumpe.

Was ich dieses Mal auch gern in Sabtenga gesehen hätte, ist eine Verbesserung der sanitären Verhältnisse – ich erinnere mich nur zu gut an meine Ausflüge in die Felder, auf der Suche nach dem bisschen Deckung, die ein stacheliger Busch bieten kann. Derzeit gibt es nur in der Klinik und in der Schule eine Latrine. Aber es gibt gute Nachrichten: Gemäß dem Latrinenausbauprogramm von Dakupa sollte Sabtenga etwa im Mai an die Reihe kommen; geplant ist, jedes Gehöft mit einer Latrine zu versorgen.
Am meisten ermutigt jedoch, dass die deutlichen Verbesserungen im Leben der Dorfgemeinschaft allesamt die grundlegendsten Bedürfnisse betreffen. Zu meiner Überraschung scheint das auch für die Verwendung der „internationalen“ Hilfsgelder zu gelten. Das Dorf verfügt nicht nur über eine neue Schwangerschaftsklinik, sondern auch über die drei neuen Klassenzimmer, die die Schule so lange so dringend benötigt hatte. Letztere, so wurde mir erzählt, wurden von DorfbewohnerInnen mit Hilfsgeldern errichtet.
Ermutigung sicher, doch sollte auch der Hintergrund bedacht werden. Die so genannte HIPC-Initiative von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), die einen teilweisen Schuldenerlass für die am höchsten verschuldeten armen Länder vorsieht, existiert bereits seit 1996. Sie war dazu gedacht, den internationalen Kampagnen für einen Erlass sämtlicher Schulden etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Initiative ist in vielfacher Weise problematisch. Selbst Länder in einer verzweifelten Lage brauchten Jahre, bis sie die Kriterien für einen Schuldenerlass erfüllten. Dazu gehörte es, ihre Wirtschaften und Gesellschaften den dogmatischen Marktprinzipien der beiden Washingtoner Institutionen zu unterwerfen – etwa sämtliche Staatsunternehmen zu privatisieren oder Bedingungen für Investitionen ausländischer Konzerne abzuschaffen.
Im Fall von Burkina Faso, einem der bravsten Schüler des IWF, wurden aus diesem Grund bis 2004 26 Unternehmen privatisiert und 16 zugesperrt. Das dürfte zu mehr Armut geführt haben, meint das Institut Africain pour le Développement Economique et Sociale (INADES), ein unabhängiger Think-Tank, da die Privatisierung zu rasch erfolgte und keine Maßnahmen gesetzt wurden, um die negativen Auswirkungen zu kompensieren.

Positiv daran ist allerdings, dass ein beachtlicher Teil des Schuldenerlasses in eine Verbesserung des „Zugangs der Armen zu grundlegenden sozialen Diensten“ fließen soll. Die erste Tranche an HIPC-Geldern für Burkina (2000-2002) umfasste 55,8 Mrd. Francs CFA (85 Mio. Euro). Davon sollten 33 Prozent für Gesundheit und 34 Prozent für Grundschulerziehung ausgegeben werden. Niemand bezweifelt, dass daraufhin zusätzliches Geld in diese Bereiche geflossen ist – nicht nur aus dem Schuldenerlass selbst, sondern auch aus anderen internationalen Geldquellen, die an einen HIPC-Erlass geknüpft sind, in diesem Fall Mittel der EU, der Schweiz, der Niederlande, Japans und des Weltkinderhilfswerks UNICEF. 2001 etwa konnte die Regierung 241 Schulen, 24 Polikliniken und 72 Schwangerschaftskliniken errichten2.
Die neuen Klassenzimmer und die Schwangerschaftsklinik in Sabtenga sind das Ergebnis dieser intransparenten nationalen und internationalen Prozesse. Ob die HIPC-Initiative für das Land insgesamt positiv oder negativ war, ist schwer zu sagen. Dass dieses Dorf profitiert hat, steht aber außer Frage.

1) Der Francs CFA („Communité Financière Africaine“) ist die Währung sowohl der Westafrikanischen als auch der Zentralafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion; 1 Euro = ca. 656 Francs CFA.
2) PRSP Assessment in Burkina Faso, IREC for the European Network on Debt & Development and Diakonia, Jänner 2003, www.eurodad.org/epep/

Copyright New Internationalist

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen