Die Effizienz der Solidarität

Von Hans Eder · · 2009/02

Die Stärke der Solidarischen Ökonomie liegt nicht in einer Dynamik des Wettbewerbs, sondern in Faktoren wie Gemeinschaft, Zusammenarbeit und Engagement – und in der Identifikation mit einem Geschichtsentwurf der Befreiung.

Ein Schlüsselbegriff der Wirtschaft ist „Effizienz“. Niemand bestreitet ihre Bedeutung auf betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Ebene, für manche hat sie fast mythische Bedeutung. Nur: Effizienz – wofür? Effizienz im Hinblick auf Anhäufung von Gütern, Macht, Profit – für Einzelne oder Eliten. Oder Effizienz bezogen auf die Lösung zentraler Probleme der Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern, Dienstleistungen?
Wir müssen weltweit sehr schmerzlich erfahren, wie das seit viel zu langer Zeit vorherrschende System des (Neo-)Liberalismus, das schlechthin mit Modernität und Effizienz identifiziert wurde, mit „Heuschrecken-Strategien“ zu einer Hybris und in die Krise geführt hat. Es ist kläglich gescheitert und führt zu einer Renaissance der Klassiker der Kapitalismuskritik (von Karl Marx bis Max Weber u.v.a.). Auch das vielfach hoch gelobte Konzept der (öko-)sozialen Marktwirtschaft wurde von den Entwicklungen überrascht und hat de facto wenig entgegenzusetzen.
Immer mehr Menschen sprechen in diesem Kontext von Chancen für fundamentale Erneuerungen, für eine neue Wirtschaftsphilosophie in Theorie und Praxis. Doch diese Chance wird derzeit nicht wirklich wahrgenommen. Nicht verwunderlich, denn die „alternativen“ Konzepte werden überwiegend systemimmanent entwickelt. Oder von ökologisch und/oder sozial motivierten „Erneuerern“, die aber im Grunde Varianten des bestehenden Systems das Wort reden.

Das Neue, Andere kommt – wie so oft in der Geschichte – von der Peripherie: geografisch und soziologisch, politisch und kulturell gesehen. Diese Erfahrung machte der chilenische Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Luis Razeto, als er zu Beginn der 1980er Jahre die informellen Wirtschaftsbetriebe und sozialen Organisationen der Metropole Santiago de Chile studierte. Er machte dabei die – für klassische Wirtschaftswissenschaftler wie ihn – überraschende Erfahrung, dass die Klein- und Mittelbetriebe der städtischen Randviertel überraschend viele Produkte, Güter und Dienstleistungen herstellten. Auch das soziale und kulturelle Leben war intakt – ja, blühte in gewissem Sinne. Fast alle BürgerInnen waren integriert, wenngleich die Armut nicht ausgerottet war, sie wurde – angesichts der Umstände – in erträglichen Grenzen gehalten. Nach klassischer Lehrmeinung hätte faktisch nichts funktionieren „dürfen“ – (fast) ohne Kapital, (fast) ohne formale Ausbildung, (fast) ohne Betriebsmittel, (fast) ohne Managementwissen.
Der chilenische Ökonom fasste das Ergebnis seiner Forschung im Begriff „Factor C“ zusammen. Das C entspringt dem Anfangsbuchstaben folgender spanischsprachiger Ausdrücke: compromiso (Engagement), colectividad (Kollektivität), compañerismo (Mitstreitertum), comunidad (Gemeinde/Gemeinschaft), carisma (Charisma), colaboración (Zusammenarbeit), coordinación (Koordination), complementaridad (Komplementarität).

Gemeinsam mit dem Faktor Arbeit bildet der „Factor C“ die zentrale Achse der Solidarischen Ökonomie. Ergänzt mit den anderen Faktoren und den Prinzipien der Gerechtigkeit, Solidarität und Reziprozität. Gerechtigkeit meint in diesem Kontext, dass allen, die sich mit ihren Talenten, Potenzialen und Möglichkeiten (geistiger und materieller Natur) engagieren, gemäß ihren Aktivitäten der Mehr-Wert gebührt.
Das Prinzip Gerechtigkeit (alles andere als ein wirtschaftsferner Begriff) ist ein Teil des Erfolgsgeheimnisses, der andere ist die Solidarität. Als spezielle Ausprägung des „Factors C“ gebührt auch ihr ein Teil der Arbeitsleistung und des Erlöses, etwa in der Größenordnung von z.B. 15%. Da sich bei der Solidarischen Ökonomie meist mehrere Betriebe in einer Genossenschaft zusammenschließen, wird über die Verwendung dieses „Factor-C-Anteils“ gemeinsam entschieden. Das kann z.B. bedeuten, dass damit einem Mitgliedsbetrieb ein viel günstigerer Kredit für diverse Investitionen zur Verfügung gestellt wird, als das das ortsansässige Bankensystem ermöglichen würde.
Effizienzsteigernd wirkt sich besonders auch das Faktum aus, dass die agierenden Personen und Gruppen mehrfach – gemäß ihren Fähigkeiten – aktiv werden. Jemand bringt sein Ingenieurwissen in einen Betrieb ein, in einen anderen z.B. erspartes Geld oder etwa eine Immobilie. Das fördert die Identifikation und die Verantwortung.
Es kommt aber noch ein weiteres Prinzip hinzu, das die Effizienz des Gesamtgebildes „Solidarische Ökonomie“ auf betrieblicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene steigert und stabilisiert: die Reziprozität. Sie meint eine Arbeits-, Dienst- oder Güterleistung für Andere, ohne dafür Äquivalenzen zu berechnen und einzufordern. Das unterscheidet die SÖ u.a. von klassischen Tauschkreisen. Die Reziprozität motiviert sich aus der Vermittlung der eigenen Leistung, des eigenen Mensch-Seins für andere, ihren Notwendigkeiten oder etwa für die Gestaltung von Fiestas, die besonders in Lateinamerika wesentliche Elemente der Kulturen sind.
Das alles ist konstitutiv für den Erfolg der Solidarischen Ökonomie und erklärt großteils bereits ihre Effizienz. Entscheidend ist überdies die Identifikation mit einem spezifischen „Projekt“. Nicht verstanden als Ausprägung einer „Projektitis“, sondern verstanden als Geschichtsentwurf der Befreiung. Damit wird die Solidarische Ökonomie zu einer Keimzelle einer anderen, neuen solidarischen Gesellschaft und Zivilisation.

Können diese im Wesentlichen in Lateinamerika ausgeprägten Prinzipien und Umsetzungsformen auf Europa übertragen werden? Sicher nicht. Sie sind sehr kontextgebunden und sind per se keine globale Alternative, die man global planen könnte.
Die lateinamerikanischen lokalen und regionalen Erfahrungen sind aber in gewissem Sinne durchaus Lehrstücke für den Norden. Freilich nur dann, wenn sich das „europäische System“ (und wohl noch mehr das nordamerikanische, chinesische oder indische) öffnet für Neues, von außerhalb des eigenen Systems und der eigenen Tradition Kommendes. Das bedeutet zunächst, das Potenzial der Selbstkritik zu stärken und sich als Akteur weltweiter Fehlentwicklungen zu verstehen.
Konkrete historische Felder der Solidarischen Ökonomie wären damit z.B. die Mobilisierung der vielen brachliegenden Talente und Fähigkeiten der vom kapitalistischen System ausgemusterten Globalisierungsverlierer, etwa arbeitsloser Jugendlicher. Aber auch all jener, die nicht so sehr aus einer Notlage solidarwirtschaftliche Betriebe bilden wollen, sondern aus einer Option für eine andere Wirtschaft und Gesellschaft heraus. Anregungen dafür gibt es auch in Europa genügend: in Italien, in Deutschland, im Wald- und Weinviertel …

Um hierzulande der Solidarischen Ökonomie in Theorie und Praxis mehr Chancen zu eröffnen, wäre es notwendig, die vereinzelten Initiativen zu stärken, sie zu begleiten und wissenschaftlich wie finanziell zu fördern. Allerdings birgt das das Problem der Bürokratisierung und übermäßigen Regulierung und Kontrolle in sich, was der Effizienz, Dynamik und Selbstverwaltung der solidarwirtschaftlichen Organisationen entgegensteht. Die beste Kontrolle solidarwirtschaftlicher Gebilde ist zweifellos der „Factor C“ selbst – wenn er nicht vorhanden ist, ist ein solidarwirtschaftlicher Prozess an sich schon tot. Das weiß niemand besser als die AkteurInnen selber. Deren Selbstkontrolle ist die effizienteste Form der Kontrolle. Parallelen dazu zeigt auch die Entwicklung des Biobauernsektors in Österreich: Die Hochkonjunktur war am deutlichsten, als die Bauern sich selbst die Kontrollmechanismen (Austria Bio Garantie) geschaffen hatten, die dann vom Staat betreffend der Gesetze überprüft werden.
Würden es die staatlichen Organe wirklich mit der Förderung der Solidarwirtschaft hierzulande ernst nehmen, wäre die Förderung von Pilotprojekten über AMS-Mittel ebenso ein positives Instrumentarium wie etwa die Inkludierung und Förderung im Kontext von Landes- und Gemeinde- bzw. Regionalentwicklungsplänen. Sie würden freilich nur dann solidarwirtschaftlichen Charakter haben können, wenn man die BürgerInnenbeteiligung im Sinne der Selbstverwaltung stärken würde. Dafür gibt es aber nur minimale Anzeichen. Die EU-Förderungen scheinen das Potential der dezentral agierenden Solidarischen Ökonomie (fast) komplett zu verkennen. Was nicht verwundert, kommen die EU-Programme doch „von oben“, während die SÖ nur „von unten“ her entsteht und wirksam ist. Einen Sonderweg scheinen einige EU-Länder (Frankreich, Spanien, Italien …) zu gehen, die in ihrer Verwaltungsstruktur etwa auf der Ebene von Staatssekretariaten der Solidarischen Ökonomie einige Bedeutung beimessen. Österreich ist auch dabei ein „Entwicklungsland“ mit wenig Innovationsprofil.

Der Autor ist Leiter des Instituts für internationale Solidarität am Salzburger Bildungswerk, Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg und FH Dornbirn sowie Direktor von Intersol (Verein zur Förderung von internationaler Solidarität, www.intersol.at).

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen