Zwanzig Jahre zapatistischer Aufstand in Mexiko. Was bleibt? Ein Kommentar von Jens Kastner.
Man hat sie „postmoderne Guerilla“, „Guerilla der Worte“ und „Diskursguerilla“ genannt, um sie von Che Guevaras Erben, den Guerilla-Bewegungen der späten 1960er und der 1970er Jahre in Lateinamerika abzugrenzen. Der Sprecher der EZLN, Subcomandante Marcos, wurde trotzdem als neuer Che gefeiert, bevor er in der Versenkung verschwand. Für das Schweigen seit 2006 wurden sie, die Wortgewaltigen, mit Häme überschüttet, weil damit politische Ratlosigkeit assoziiert wurde. Als dann Ende 2012 rund 40.000 Maskierte in einem Schweigemarsch die Faust ballten, schwiegen wiederum die vormals Hämischen. Das Spiel mit solchen Widersprüchen ist Teil des zapatistischen Spiels.
Rassismus, Armut und Neoliberalismus, die drei wesentlichen Großanlässe für das Entstehen der Bewegung, sind nach wie vor virulent. In Mexiko und weltweit. Aber wie kamen die Zapatisten überhaupt in unsere Köpfe und Begehrensvorräte? Was haben wir schon mit den Lebensrealitäten indigener Bevölkerungsgruppen im südlichsten und ärmsten Bundesstaat Mexikos gemeinsam, dass wir uns mit ihnen beschäftigen? Wie kam es, dass Leute, die ihre Gesichter mit pasamontañas, dem mexikanischen Skimützenpendant, und Tüchern verdeckten, um endlich gesehen zu werden, auch gesehen wurden?
Die Kämpfe der südmexikanischen Landbevölkerung sind auf ein Echo gestoßen, das enorm war. Etwas mehr als drei Jahre vor Beginn des Aufstands war die Sandinistische Revolution abgewählt worden, der Ostblock – für viele Linke wenn auch kein Gegenmodell, so doch ein machtpolitisch gern gesehenes Korrektiv gegenüber der kapitalistischen Expansion – war zusammengebrochen und George Bush senior hatte die Neue Weltordnung verkündet. In Mexiko regierte seit 1929 dieselbe Partei, seit den 1940er Jahren unter dem schönen Namen Institutionell-Revolutionäre Partei (PRI). Die politischen Rahmenbedingungen erklären zumindest die Überraschung, die die indigen geprägte Bewegung am 1. Jänner 1994 auslöste. Die eigenen Inhalte, das basisdemokratische, auf Zuhören basierende Politikmodell und der Kampf gegen den Neoliberalismus waren die Schlüssel für die große Anschlussfähigkeit. Und nicht zuletzt die Formen, eine ungewohnt poetische Sprache in den Verlautbarungen und eine extrem einfallsreiche Kampagnenpolitik (Konvent, Marsch, Verhandlung, Intergalaktische Treffen, Befragung, Buskarawane, Festival u.v.a), machen die Begeisterung nachvollziehbar. Für die globalisierungskritischen Bewegungen wurde der Zapatismus zu einer zentralen Bezugsgröße. Wegen der offensiven Suche nach Alternativen zur kapitalistischen „Modernisierung“. Auch wenn die „dritte Schulter“, wie Subcomandante Marcos die transnationale Unterstützung nannte, in den letzten Jahren merklich schwächelt und auf ihr nicht mehr allzu viel ruht: Jenseits von konjunkturellen Tiefs revolutionsromantischer wie journalistischer Logiken sind die Zapatistas nach wie vor eine wichtige Konstante in den Kämpfen gegen rassistische Ausgrenzung, gegen die Diskriminierung von Frauen, aber auch gegen infrastrukturelle Großprojekte und Umweltzerstörung.
Es gab Solidaritätsgruppen und es gibt Kooperativen, die Kaffee aus den zapatistischen Gebieten vertreiben. Und dann das intellektuelle Feld: Hier wurde konzeptuell vermittelt, warum all die Fragen – die Frage der Landverteilung, die Frage nach Autonomie und kulturellen Rechten, die Frage der Bildung verarmter Bevölkerungsteile und die Frage politischer Organisierung und Repräsentation – nicht nur im mexikanischen Bundesstaat Chiapas zu stellen sind. In Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, soziale Bewegungsforschung und andere Wissensproduktionen intervenierten die Zapatistas nicht nur als (passiv beforschter) Gegenstand, sondern auch als Inhalte generierende Kraft. Das ist nur ein kleiner, eben vermittelnder Teil zapatistischer Politik, und in welchem Verhältnis er zu den Kräften steht, die in Chiapas Hunderttausende jenseits staatlicher Strukturen mit Nahrung, Bildung, Infrastruktur versorgen, die Frage soll an dieser Stelle gar nicht aufgeworfen werden.
Schließlich, vor lauter Faszination dürfen natürlich auch die potenziellen Sackgassen und Fallstricke nicht vergessen werden, die bei voll gegen das staatspolitische System ausgerichteten Strategien immer lauern. Weniger als Vereinnahmung denn als Regionalismus oder gar Isolation. Aber das sind beileibe nicht die Probleme, an die anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Aufstands zu gemahnen ist.
Ich denke, man kann sicher sein, dass eine politische Beschwörungsformel von hier aus – von den zapatistischen Gebieten in Mexiko und in aller Welt – auch in den kommenden Jahren tagtäglich umgesetzt wird: „¡La lucha sigue!“, „Der Kampf geht weiter!“ Und das ist, solange es Armut, Rassismus und Neoliberalismus gibt, gut so.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt als freier Autor und Dozent in Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen soziale Bewegungen in Lateinamerika.
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