Zehntausende Arbeiter und Amazonasindianer starben beim Bau der Ersten Eisenbahn im Amazonas Anfang des 20. Jahrhunderts. Heute genießen Touristen die Aussicht auf einer acht Kilometer langen Nostalgiefahrt durch den Regenwald. Eine Reportage.
Heute aber kommen nur noch TouristInnen, um bei einer kurzen Fahrt einen Hauch der vergangenen Zeiten zu spüren. Viele BrasilianerInnen aus Porto Velho und Umgebung, aber auch Brasilienreisende sind dabei, die sich auf dem Weg vom Süden hinauf nach Manaus einen kurzen Abstecher gönnen. Jeden Samstag und Sonntag so ab neun pfeift die „dampfende Maria“ dann zur gemächlichen Fahrt aus dem kleinen altehrwürdigen und wieder herausgeputzten Bahnhofsgebäude. Und gespannt klettern die Gäste in die Waggons der ersten, zweiten und dritten Klasse – die nach all den Jahren kaum noch von ihrer Qualität her zu unterscheiden sind.
Vorbei an mit Grünspan und Moos übersäten Loks und Güterwaggons hinter dem Bahnhof, vorbei an kargen Holzhütten und wackligen Pfahlbauten der glücklosen EinwohnerInnen von Porto Velho am Rande des breiten Rio Madeira ächzt „Maria Fumaca“ dann aus der 300.000-Einwohner-Stadt hinein in den dichten Wald. Aber schon nach wenigen Kilometern stoppt die alte Dame wieder. „Schlamm bedeckt die Gleise“, beruhigt Sebastiao Barros, der Lokführer. Und während einige Bahnarbeiter ihre Schaufeln schultern, hebelt Barros im offenen Führerhaus am rußigen Gestänge herum und erzählt ein wenig: „In der Regenzeit hatten wir früher immer einen Sandwaggon dabei, um das Abrutschen der Schienen zu verhindern. Und alle 20 Kilometer säuberte ein Arbeitstrupp die Strecke.“
Einige Gäste vertreten sich die Beine. Doch schon zieht der Gehilfe von Barros am Lokhorn – ein langer, Gänsehaut provozierender Pfiff schallt durch den Wald und über den Rio Madeira und ruft zur Weiterfahrt.
Anfang des Jahrhunderts kam „Maria Fumaca“ per Schiff über den atlantischen Ozean und dann den Amazonas und den Rio Madeira hinauf tief in den brasilianischen Urwald. Abgeladen wurde sie im damals noch kleinen Nest Porto Velho, von wo aus eine amerikanische Bau-Gesellschaft im Auftrag von Brasiliens Regierung eine Schneise in den Regenwald geschlagen hatte. Es war die Zeit des Aufbruchs in jene Ecke des südamerikanischen Landes, die noch weithin als weißer Fleck auf den Landkarten verzeichnet war.
Zwar hatte man schon Mitte des 19. Jahrhunderts Pläne für die Urwaldstrecke geschmiedet, um den Transport von Kautschuk und Bodenschätzen zu erleichtern, die im Amazonasgebiet vermutet wurden. Gleich nach dem Boom der Eisenbahnen in Europa, schlugen mehrere optimistische Expeditionen auch eine Strecke durch den Regenwald vor. Doch immer wieder schlugen alle Planungen fehl, da das Gelände zu unwegsam war und der Bau als zu teuer galt. Mitunter wurden nach einigen Bauansätzen sofort alle Brocken wieder hingeworfen.
„Erst 1907 ging es dann los“, erzählt der Bahnhofsvorsteher von Porto Velho, Luiz Claudio de Oliveira Ramos. „Die Arbeiter kamen damals aus aller Herren Länder. Engländer, Schotten, Deutsche, Mittelamerikaner, Afrikaner.“ Doch während die Afrikaner die Strapazen eher verkraftet hätten, seien viele Europäer bereits bei ihrer Ankunft gestorben – an verschiedenen Krankheiten wie Malaria oder Gelbfieber.
„40.000 Menschen sind hier beerdigt worden“, berichtet der Pensionist Alfonso Johnson dem staunenden Besucher eines kleinen Museums, das die Eisenbahn-Veteranen von Porto Velho in einer Halle neben dem Bahnhof eingerichtet haben. Nur wenige wollen von dem Nachfahren einer Bahnarbeiterfamilie aus Barbados wissen, wie es bei dem legendären Bau so vor sich ging. Doch wenn der alte Johnson beim Gang durch die Museumshalle hier am Rande des Madeira ins Erzählen gerät, meint man irgendwo in einer Szene von „Onkel Toms Hütte“ zu stehen oder wie Huck und Tom am Rande des Mississippi den Erzählungen ihres älteren schwarzen Freundes zu lauschen.
„Es ist überliefert“, raunt Johnson, „dass jede Bahnschwelle einen Arbeiter forderte. Dann müssten es sogar 70.000 sein, die bis zum Bauende 1912 gestorben sind“. Einschränkend hebt er die Hand: „Eine Überlieferung! Nichts Belegbares!“
Zu den Toten zählen auch die vielen Opfer, die der Bahnbau unter den Indios forderte. Mal starben sie an der eingeschleppten Grippe, mal wurden sie massakriert, so Alfonso Johnson: „Am Tag hatten die Arbeiter die Schienen gesetzt, aber nachts rissen die Indios sie heraus. Das störte – zudem starben immer mehr Arbeiter. Man wehrte den Protest ab, indem man die Schienen unter Starkstrom setzte. Morgens wurden 30, 40 tote Indios in die Böschung geworfen, bevor die Arbeit weiterging. Man tötete die Indios, wie und wo es nur ging.“
60 Jahre lang brachten die Dampfloks ab 1912 dann Kautschuk, Rinder und Früchte in den Binnenhafen von Porto Velho, wo Schiffe aus aller Welt warteten. Das kleine Nest wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Region. Aber das Ende des Kautschuk-Booms und der zunehmende Straßenverkehr auch hier brachten 1972 das endgültige Aus. Der Goldboom bescherte der Hauptstadt Rondonias noch einige Jahre lang das Image eines El Dorados, wo man an jeder Ecke Gold ver- und aufkaufen konnte, wo unzählige Rotlichtspelunken die Goldgräber lockten und wo hinter jeder Ecke das nahe Ende stecken konnte. Doch das dauerte eben auch nur noch eine Zeit. Und so ist die Eroberungsfront längst tiefer gerückt in den Amazonas.
Heute sind die Lastwagen das Transportmittel Nummer Eins und bringen über die langen, teils staubigen Amazonasrouten bis tief in die Wälder ihre Waren zu denen, die diese letzten Urwälder roden, Holz schlagen, Gold suchen, Rohstoffe abbauen und damit die indianischen Ureinwohner vertreiben. Während noch im Jahr 1500, als der Portugiese Pedro Cabral seine Füße auf Brasiliens Boden setzte, über fünf Millionen IndianerInnen hier lebten, sind es heute gerade noch 350.000. Und im Bundesstaat Rondonia reduzierte sich ihre Zahl mit dem Eroberungsfeldzug Anfang des Jahrhunderts erheblich: Einige Völker, die hier vor Jahrzehnten noch 5.000, 10.000 oder 15.000 Menschen zählten, sind heute auf 500, 100 oder zehn dezimiert.
Für manche hat der Staat ein Stück Land vermessen, andere vegetieren am Rande der Städte wie Porto Velho oder in einem heruntergekommen Indianerhaus in der Nähe des alten Bahnhofs vor sich hin. Fortschritt ist in diesem Teil Amazoniens gefragt. Auf der Avenida „Sete de Setembro“, der Hauptstraße durch die City, locken Kaufhäuser, Spielzeugläden oder Parfümerien die Elite Rondonias an.
Nachmittags noch ruhig und gemächlich, verwandelt sich mit Einbruch der Dunkelheit die Kulisse hier in gefährliches Terrain. Dann haben allerhand pistolenschwingende Machos das Sagen.
Ein Schluck aus der kühlen Kokosnuss, noch ein kurzer Blick über den dahinziehenden Strom. Dann kündigt ein langes Pfeifen aus der Ferne die erneute Einfahrt von „Maria Fumaca“ an. Noch sind es nur acht Kilometer Strecke, doch demnächst wollen die Bahnfreunde auf 25 Kilometer ausbauen. Und das ohne große Hilfe des Staates. „Das interessiert hier ohnehin keinen mehr“, resümiert Eisenbahnveteran Johnson beim Abschied. „Zwar kommen Ausländer, her, um die Maschinen und die Dinge in unserem Museum zu sehen, aber unser Gouverneur und unsere Politiker waren noch nie hier.“
Der Autor ist freiberuflicher Journalist. Er lebt in Bielefeld, Deutschland.
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