Die Bürokratie des Krieges

Von Markus Schauta · · 2019/Mai-Jun

Obwohl in Syrien der Krieg weitergeht, beginnt langsam die Aufarbeitung von Verbrechen. Über eine schwierige Suche nach Gerechtigkeit.

Von Markus Schauta

Der Albtraum in Syrien ist noch nicht vorbei, auch wenn mit dem besiegten sogenannten Islamischen Staat (IS) ein Akteur wegfällt. Acht Jahre Krieg haben ein Trümmerfeld hinterlassen. Seit Beginn des Krieges 2011 sind eine halbe Million Menschen ums Leben gekommen. Dabei handelt es sich nicht nur um Opfer von Kriegshandlungen. Von Damaskus über Aleppo bis Deir ez-Zor wurden ZivilistInnen ausgehungert, zu Tode gefoltert, ermordet.

Die weitaus größte Zahl der Verbrechen geht auf das Konto des Regimes im Gegensatz zur Opposition mit ihren vielen unterschiedlichen Akteuren. Und weil Syrien selbst in Kriegszeiten ein zutiefst bürokratischer Staat ist, hinterlassen diese Verbrechen Spuren, auch verwaltungsmäßig. In Gebieten, aus denen sich das Regime zurückzog, konnten syrische Ermittler, Anwältinnen und Menschenrechtsaktivisten tausende Dokumente in Amtsstuben, Polizeistationen und den Zentralen der Geheimdienste sicherstellen: Namenslisten, Berichte, unterschriebene und gestempelte Befehle.

2013 schmuggelte ein ehemaliger Militärfotograf mit Decknamen „Caesar“ tausende Fotos aus Syrien heraus. Auf knapp 7.000 davon sind Gefangene abgelichtet, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus in Damaskus starben. Die Leichen zeigen eindeutige Spuren von Folter.

Die Dokumente belegen: Anders als Präsident Bashar al-Assad behauptet, steckt Methode hinter Folter und Mord. Und die Spitzen des Regimes sind darüber informiert. Die Beweise für Verbrechen nach Völkerrecht sind erdrückend.

Dennoch kann der Internationale Strafgerichtshof (ICC) nicht tätig werden, denn Syrien ist ihm nicht beigetreten. Eine mögliche Überweisung des Syrien-Dossiers an den Internationalen Gerichtshof durch den UN-Sicherheitsrat scheitert am Veto von Russland und China.

Verbrechen auf der Spur

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) hat seinen Sitz im niederländischen Den Haag. Der ICC kann nur jene Verbrechen verhandeln, die in einem Mitgliedsstaat geschehen sind oder von einer Person aus einem Mitgliedsstaat verübt wurden. Trifft beides nicht zu, kann der UN-Sicherheitsrat die Zuständigkeit des ICC beschließen.

Das Weltrechtspflegeprinzip, das zur nationalen Rechtsprechung gehört, soll Straflosigkeit von Völkerstraftaten verhindern. Ein Staat kann dadurch ausländische Täter anklagen, die Straftaten in einem anderen Staat begangen haben. Damit das Weltrechtspflegeprinzip zur Anwendung kommt, gelten je nach Land unterschiedliche Kriterien. In Österreich etwa müssen sich  Beschuldigte im Inland aufhalten. M. S.

Gerichte klagen an. 2016 haben die Vereinten Nationen eine Resolution zur Gründung eines unabhängigen Gremiums in Genf (International Independent and Impartial Mechanism) verabschiedet. Ziel des Gremiums ist die Sicherung und Analyse der gesammelten Beweise. „Die Arbeit des Gremiums ist unglaublich wichtig für zukünftige Strafverfolgungen“, sagt Toby Cadman, Mitglied bei Guernica 37, einer international tätigen Anwaltskanzlei mit Sitz in London.

Ermittlungen von AnwältInnen und Menschenrechtsorganisationen haben bereits in Deutschland, Frankreich, Schweden und Spanien zu Strafanzeigen gegen Funktionäre des syrischen Regimes geführt. Möglich ist dies, wenn in Syrien ein Menschenrechtsverbrechen an einem Staatsbürger bzw. einer Staatsbürgerin des jeweiligen Staates verübt wird. Oder auf Basis des sogenannten Weltrechtspflegeprinzips (siehe Kasten links), das greift, wenn in einem fremden Staat Verbrechen nach Völkerrecht begangen werden – was für Syrien zutrifft.

Folterüberlebende aus Syrien reichten daher im Februar 2019 bei einem schwedischen Gericht Anzeige gegen hochrangige BeamtInnen der syrischen Regierung ein. 2018 konnte die deutsche Bundesanwaltschaft einen internationalen Haftbefehl gegen Jamil Hassan, Chef des syrischen Luftwaffengeheimdienstes erwirken. Die ErmittlerInnen werfen ihm systematische Folter und willkürliche Exekutionen politischer Gefangener vor. Im Februar wurde bekannt, dass Hassan zu einer medizinischen Behandlung in den Libanon gereist war. Berlin hat daraufhin ein Auslieferungsersuchen an den Libanon gestellt. Bisher ohne Erfolg. Aber mit einer raschen Verurteilung der Täter sei ohnehin nicht zu rechnen, so Anwalt Cadman, der bereits an der Strafverfolgung von Tätern im Bosnienkrieg beteiligt war. „Untersuchungen zu Kriegsverbrechen, die vor mehr als zwanzig Jahren in Bosnien verübt wurden, sind zum Teil bis heute nicht abgeschlossen.“

Dennoch ist Cadman zuversichtlich. Die Tatsache, dass europäische Gerichtshöfe Ermittlungen eingeleitet und Haftbefehle ausgestellt haben, zeuge davon, dass die Mühlen der internationalen Justiz mahlen.

Auch in Österreich mahlen sie. Bis jetzt gibt es zwar keine Anklagen, „es wird aber ermittelt“, sagt Tatiana Urdaneta Wittek, Anwältin bei der Wiener Menschenrechtsorganisation CEHRI (Centre for the Enforcement of Human Rights International). Auslöser sei eine Strafanzeige von 16 Frauen und Männern im Mai 2018 bei der Staatsanwaltschaft Wien, die sich gegen hochrangige Funktionäre der Regierung von al-Assad richtet.

Mangel an Beweisen. Ein weiteres Kapitel in der Aufarbeitung des syrischen Krieges sind die Verbrechen des IS. Mit der Eroberung ehemaliger IS-Gebiete gelangten mehr und mehr Dschihadisten in kurdische Gefangenschaft. Doch die Kurden und Kurdinnen sehen sich mit der großen Zahl an Gefangenen überfordert. Davon berichtet Abdulkarim Omar, Außenbeauftragter der kurdischen Selbstverwaltung (Rojava) in einem Interview mit der Wiener Zeitung.

Da 70 Prozent der Inhaftierten AusländerInnen sind, schlägt er vor, „dass jedes Land seine eigenen Bürger zurücknimmt und auf seinem Boden vor Gericht stellt".

Bisher befinden sich zwei Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft in Haft in Rojava (eine Frau und ein Mann, beide aus Wien). Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) geht von rund hundert ÖsterreicherInnen aus, die sich immer noch in Syrien und im Irak aufhalten. Zurück in Österreich könnten diese Personen aufgrund Paragraph 278b des Strafgesetzbuchs (u.a. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) zu Haftstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt werden. Aber: „Viele Verfahren würden in Syrien hängen bleiben“, sagt Astrid Reisinger-Coracini vom Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung am Wiener Juridicum. Denn auch wenn die Personen in Syrien Straftaten begangen haben, besteht die Gefahr, dass sie dafür aus Mangel an Beweisen nicht verurteilt werden können.

Also doch Sondergerichte in Syrien, um die Befragung möglicher Zeugen zu vereinfachen? Österreichs Innenminister Herbert Kickl hat in diesem Zusammenhang Ad-hoc-Straftribunale gefordert. Deren Aufgabe wäre es vor Ort, also in Syrien, Anklagen vorzubereiten und Gerichtsverhandlungen gegen Kriegsverbrecher zu führen. Diese setzen allerdings einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates voraus, der wieder einmal an einem Veto von Russland scheitern könnte.

Ein anderer Weg wären sogenannte hybride Gerichte, erklärt Reisinger-Coracini. Gekennzeichnet sind diese durch die Zusammenarbeit von nationalen und internationalen JuristInnen, die nicht nur Tatbestände des Völkerstrafrechts, sondern auch solche des nationalen Strafrechts behandeln. Für diese bräuchte es keine Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Wohl aber jene von Assad, da etwa Rojava kein Staat ist, sondern syrisches Hoheitsgebiet.

Welche Zuständigkeit das Sondergericht hat, sei Verhandlungssache. Es wäre daher möglich, dass es ausschließlich IS-Verbrechen verfolgt und jene des Regimes ausblendet. Eine Option mit der Assad möglicherweise leben könnte, so Reisinger-Coracini: „Ob das für die internationale Gemeinschaft ein gangbarer Weg wäre, ist eine andere Frage.“

Markus Schauta berichtet für deutschsprachige Medien aus dem Nahen Osten, zuletzt aus dem Irak und Libanon.

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