Wenn sie die Straßen sperren, geht in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires nichts mehr. Niemand kommt mehr herein, niemand mehr heraus. Es ist wie ein Streik, der die gesamte Stadt betrifft. Diejenigen, die dort „streiken“, manche mit Holzknüppeln in der Hand, manche mit Kindern auf dem Arm, sind die Piqueteros (piquete de huelga = Streikposten). Ein Wort, das nur schwer zu übersetzen ist für eine Bewegung, die weltweit nicht ihresgleichen hat. Sie ist aus der absoluten Not geboren, ist eine Bewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern, die keine Arbeit mehr haben. Und auch keine Aussicht darauf. Die an den Rand gedrängt und vergessen wurden.
Als im Dezember 2001 Argentinien wirtschaftlich und politisch in sich zusammenbrach, schien es nichts und niemanden zu geben, der das immer größer werdende soziale Vakuum füllte. Es existierte keine Institution und kein Auffangbecken für die vielen Millionen – in nur einem Jahr knapp die Hälfte der Bevölkerung –, die plötzlich im sozialen Aus standen. Die Parteien hatten sich allesamt diskreditiert. Die Gewerkschaften galten als Fürsprecher von ArbeitnehmerInnen, nicht aber von sozialen Außenseitern, und zudem waren sie zu eng mit dem alten politischen Apparat verstrickt und hatten ihre Glaubwürdigkeit verloren. Caritative Einrichtungen und die Kirche versuchten mit einigen Suppenküchen, das gröbste Leid zu mindern. Doch mit einem Essen am Tag war es nicht getan.
Es waren die Frauen, die als erste aufstanden und anfingen, das schlichte Überleben zu organisieren. Fast alle trieb ihr Muttersein aus der Küche raus auf die Straße. „Wir haben lange genug den Kopf gesenkt. Heute kämpfen wir für unsere Kinder. Die Männer haben sich mit ihrer Arbeitslosigkeit zuerst verkrochen. Aber wir spürten, wenn wir nichts tun, gehen wir unter“, erinnert sich die Piquetera Eva Gutiérrez vom Polo Obrero (Arbeiterpol), einer radikalen Linkspartei.
Schätzungsweise acht von zehn Piquetero-Basisgruppen werden von Frauen geleitet. Sie organisieren wie in großen Familien oder autonomen Gemeinden die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse. Brot vom Bäcker ist zu teuer, Mehl aber günstig zu haben. Also werden Lehmöfen in einem Hinterhof errichtet, das Brot selbst gebacken. Der Platz um die Ecke liegt brach, also wird dort ein Kartoffelacker angelegt. Gekocht wird für alle gemeinsam. Jeder bringt mit ein, was gerade da ist, stellt ein Zimmer, den Hinterhof, zwei Stühle zur Verfügung. Die bitterste Armut bekämpfen die Piqueteros durch ihre Gemeinschaft. Trotzdem bleibt die Situation an sich prekär und unwürdig.
Dieser tägliche Überlebenskampf, den vorwiegend die Frauen bestreiten, bleibt allerdings im Hintergrund. Die große Politik jenseits des sozialen Engagements, die das Bild der Piqueteros in der Öffentlichkeit bestimmt, haben die Männer übernommen.
Inzwischen sind knapp 70.000 Arbeitslose in verschiedenen Piquetero-Strömungen organisiert. Noch vor zwei Jahren war die Unterstützung groß. Diese neuartige Bewegung hatte Hoffnungen geweckt, der meist korrupten argentinischen Politik den Druck der Straße entgegensetzen zu können. Weit über die Hälfte der ArgentinierInnen hielt die Straßensperren für eine legitime Art des Protestes der Arbeitslosen. Aus aller Welt kamen Interessierte, das Phänomen der Piqueteros zu studieren. Ein regelrechter Piquetero-Tourismus entwickelte sich. So manche StudentInnen aus Europa wohnten monatelang bei den Piqueteros in den Armenvierteln. Einige Gruppen ernannten gar „Touristenführer“, welche die Angereisten mit dem Kollektiv und seiner Umgebung vertraut machten.
Heute halten nur noch 33 Prozent der ArgentinierInnen die Forderungen der Piqueteros für gerechtfertigt. An der einst vielversprechenden sozialen Bewegung scheiden sich heute die Geister. Die Gründe dafür sind vielfältig.
„Letztendlich schaden sie nur denjenigen, die selbst zur Arbeit müssen“, regt sich Ana Espinoza auf. Die Putzfrau, die aus einem ärmlichen Viertel außerhalb der Stadt kommt, steckt wegen der Blockaden der Piqueteros oft stundenlang mit dem Bus fest. Hinzu kommt die Missgunst über die Arbeitslosenhilfe im Rahmen des so genannten Plans „Jefas y Jefes de Hogar“ (Haushaltsvorstände). Jeder arbeitslose Familienvorstand erhält im Gegenzug zu einer gemeinnützigen Arbeit eine staatliche Unterstützung von 150 Pesos (41 Euro) pro Monat. Über zwei Millionen, sofern sie Familie haben, erhalten inzwischen diese Unterstützung. Die geforderte gemeinnützige Arbeit dient dem Piquetero-Kollektiv. Der eine zimmert dafür das Dach der Suppenküche, der andere jätet Unkraut im gemeinsamen Gemüsegarten und die Piquetera, die Lesen und Schreiben kann, gibt Nachhilfeunterricht für die Kinder.
So weit, so sinnvoll. Doch die Auszahlung der 150 Pesos erfolgt noch immer nicht direkt vom Staat an die Betroffenen selbst, auch wenn es erste Schritte in diese Richtung gibt. Bislang wird das Geld einzelnen Organisationen zugesprochen, die es dann wiederum ihren Mitgliedern aushändigen. Die Anführer erhalten dadurch Gelegenheit zu beträchtlicher Machtausübung. Ein großes Geschäft also, mit dem sich Führungskräfte ein Heer von Armen in Abhängigkeit halten können, ganz nach argentinischer Tradition. Seit Jahrzehnten schon kontrolliert zum Beispiel die peronistische Partei über soziale Zuwendungen komplette Stadtviertel.
Über zehn Prozent Wirtschaftwachstum werden Argentinien für dieses Jahr prophezeit. Schon im vergangenen Jahr entstanden eine Million neue Arbeitsplätze vor allem im Bau, im Handel und bei privaten Dienstleistungen kleiner und mittlerer Unternehmen. Damit sank die offizielle Arbeitslosenquote in nur zwei Jahren von 21 auf 14,4 Prozent.
Trotzdem lebt die Hälfte der Bevölkerung weiterhin in Armut. Die Sozialprogramme der Regierung werden lediglich als ein Tropfen auf den heißen Stein empfunden, auch wenn die Sozialausgaben im Budget 2004 um fast zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr erhöht wurden. Das Geld fließt unter anderem in das Programm „Hände ans Werk“, mit dem Selbständigkeit gefördert und Arbeitslosigkeit abgebaut werden soll. Damit wurden inzwischen 20.000 Projekte für Kleinstunternehmen gestartet, die über Mikrokredite nach Vorbild der Grameen-Bank in Bangladesch finanziert werden.
Auch wenn die Piquetero-Bewegung momentan nicht mehr am Wachsen ist, wurde sie doch durch den Druck, den sie ausübt oder der sich über sie ausüben lässt, zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor im Land. Einem Machtfaktor, den sich einzelne Piquetero-Führer wie auch Politiker aus Regierung und Opposition zunutze machen wollen.
Präsident Néstor Kirchner setzt auf Dialog. Er hält an seiner Weigerung fest, die Demonstrationen mit Polizeigewalt unterdrücken zu lassen. (Früher blieben schon mehrmals beim Versuch der Räumung von Straßensperren Piqueteros erschossen auf der Straße liegen.)
Kirchner arbeitet mit den so genannten „weichen“ Piqueteros zusammen, die im Gegenzug dazu bis auf weiteres von Straßensperren abgesehen haben. Vor einiger Zeit nahmen sogar RegierungsvertreterInnen an einer Kundgebung der „weichen“ Piqueteros teil, was dem Präsidenten die Anschuldigung einbrachte, er sei der Führer der Piquetero-Partei. Die „harten“ Piqueteros können ihre Proteste ungehindert durchführen, obwohl sie auf Konfrontation mit der Regierung setzen. Diese Gruppen sind wesentlich politisierter, sie entsprechen verschiedenen linken Strömungen und treten für eine Abschaffung des jetzigen politischen Systems ein.
Viele ArgentinierInnen empfinden es inzwischen als einen Schwachpunkt in der sonst so populären Politik ihres Präsidenten, dass er den Piqueteros keine Grenzen setzt. Diesen Unmut der Bevölkerung macht sich vor allem die innerparteiliche Opposition um Kirchners Amtsvorgänger Eduardo Duhalde zunutze. Duhalde, einer der mächtigsten Peronisten im Land, versucht die Dialogpolitik des Präsidenten zu diskreditieren. Kirchner ließe sich auf der Nase herumtanzen, so das Credo.
Inzwischen greift die Justiz ein. Mehrere Führer von „harten“ Piquetero-Gruppen wurden festgenommen, nachdem es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam.
Es bleibt die Befürchtung, dass die ursprünglich genuine Bewegung der Arbeitslosen längst unterlaufen wurde. Denn ihre Wut ist leicht zu manipulieren. Die Forderung nach Arbeitsplätzen scheint Mittel zum Zweck in einem Machtpoker geworden zu sein, dem die eigentlich Betroffenen, die Arbeitslosen, ohnmächtig gegenüberstehen. Sie werden immer mehr zu einem „Heer der Armen“, mit dessen Hilfe Politiker und Piquetero-Führer verschiedenster Richtungen versuchen, ihre persönlichen Interessen durchzusetzen.