Im Osten Burmas vollzieht sich ein schleichender Genozid am Volk der Shan, die seit Jahrzehnten für ein unabhängiges Staatsgebiet kämpfen.
Text von Werner Zips, Fotos von Manuela Mairitsch.
In der Mittagssonne blitzt der Lauf einer silbrigen 9mm-Pistole auf. Die überdimensionale Feuerwaffe hebt sich grotesk von der verwitterten Stupa des buddhistischen Tempels ab. Eine viel zu kleine Bubenhand hält sie fest umschlossen und zielt damit unermüdlich auf die Gläubigen und auf alles, was sich an diesem Festtag in Wat Pa Pao, einem der ältesten Tempel von Chiang Mai im Norden Thailands, bewegt. Er trägt das leuchtend orangefarbene Gewand eines Mönchsnovizen.
Vor neun Tagen war er einer jener 54 „Kristallsöhne“, die in der Poy Sang Long-Zeremonie geweiht und damit in das Shan-Kloster aufgenommen wurden. Seine Waffe ist ein täuschend echt wirkendes Spielzeug, das er sich von einem seiner ehemaligen Spielkameraden geborgt haben muss. Manche seiner Freunde und Verwandten, die ihn schon zur Weihe begleitet hatten, sind auch heute mit ihren Familien gekommen.
Immer mehr Gläubige stecken Räucherstäbchen und Siegesflaggen, die ihren Verstorbenen gewidmet sind, in den sakralen Sandbau. Tote haben die Shan in den letzten Jahren leider viel zu viele zu beklagen. Die meisten von ihnen sind Opfer eines zwangsweisen Umsiedlungsprogrammes, das die burmesische Militärjunta auf dem Gebiet des beanspruchten Shan-Staates im Jahr 1996 initiiert hatte. Vergewaltigungen, Morde und außergerichtliche Hinrichtungen gehören zu den systematischen Unterdrückungspraktiken der Truppen des burmesischen Regimes an der Zivilbevölkerung in den so genannten Shan-Staaten im Norden. Durch die massenweisen Umsiedlungen soll der „Shan-Befreiungsarmee“, die für einen unabhängigen Staat kämpft, die zivile Unterstützung entzogen werden. Ohne die Versorgungsleistungen durch die Familien der Freiheitskämpfer würde dem militärischen Widerstand – so die Hoffnungen der burmesischen Militärs – bald die Luft ausgehen.
Nach einem Bericht der „Asiatischen Menschenrechts-Kommission“ wurden seit März 1996 die BewohnerInnen von beinahe 1500 Dörfern ausgesiedelt und die Häuser, Felder und sonstigen Besitzungen anschliessend zerstört. In einer Publikation der Shan Human Rights Foundation sind die Namen aller Dörfer ebenso penibel aufgelistet wie die Namen der Hingerichteten, vergewaltigten Frauen und sonstigen Opfer von massiven Menschenrechtsverletzungen.
Es kann nur verblüffen, dass dieser von Amnesty International und vielen anderen NGOs bestätigte Völkermord international kaum mediale Aufmerksamkeit findet. Reiseberichte in Tageszeitungen und Magazinen schwärmen hingegen vom exotischen Zauber des „Geheimtipps Burma“, dessen Bambusvorhang sich nunmehr lüfte und fantastische Einblicke in die geheimnisvolle Welt der goldenen Pagoden und tiefgründig lächelnden Menschen freigebe. An die – inoffiziellen Angaben zufolge – mehrere hunderttausend Shan-Flüchtlinge im Norden Thailands denkt dabei offenbar kaum jemand.
André, einer der wenigen Englisch sprechenden Mönche von Wat Pa Pao und deshalb eine Art Pressesprecher des Klosters, versucht innerhalb Thailands die Anliegen der Shan zu vertreten. Das Poy Sang Long-Festival, die einzigartige Novizenweihe der Shan, verschafft ihm eine seltene Gelegenheit, internationale JournalistInnen zu erreichen: „Jetzt, wo sich Burma für westliche Touristen öffnet, besteht eine historische Chance, die Übergriffe gegen die Shan, Palaung, Wa und andere ethnische Minderheiten, die sich politisch den Shan-Staaten zugehörig fühlen, international anzuprangern“, meint er beschwörend zu der Hand voll anwesender Presseleute. „Schaut euch unsere Kinder an. Fast alle spielen sie mit Schusswaffen, sogar die jungen Novizen. Viele von ihnen sind Waisen. Ihre Eltern sind Opfer der außergerichtlichen Hinrichtungen oder im Kampf gefallen.“
Jedes Jahr Anfang April stehen die Mönchsnovizen im Mittelpunkt. Verwandte und Freunde bemühen sich, ihnen den Abschied vom weltlichen Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Während der dreitägigen Feiern zur Mönchs-Ordination werden die Kristallsöhne der Shan wie Prinzen behandelt. Sie dürfen keine Arbeit verrichten, nicht einmal zu Fuss gehen. Unter goldenen Schirmchen werden sie von ihren nächsten Angehörigen auf den Schultern getragen. Zum ersten und letzten Mal genießen sie fürstlichen Luxus: Essen, so viel sie wollen, opulenten Schmuck, Blumengestecke auf ihren Köpfen, teure Gewänder, Perlenketten, kunstvolle Stickereien, lackierte Fingernägel und die Schminke von Schönheitsköniginnen.
All das wird ihnen rituell am Höhepunkt der Feiern, der eigentlichen Aufnahme in den Mönchsstand, wieder abgenommen. Als Mönche lautet das erste Gebot: Verzicht. Verzicht auf alle irdischen Freuden. Aber auch Verzicht auf jede Art von Gewalt. Vielleicht gerade deshalb fungieren die Shan-Klöster in Thailand quasi als diplomatische Vertretungen der politisch-militärischen Gruppierungen. Mit Zeremonien wie Poy Sang Long feiern sie nicht nur die bedrohte Kultur der Shan, sondern den politischen Willen zur (staatlichen) Selbstbestimmung.
Der Autor ist a.o. Professor am Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien mit Schwerpunkt Karibikforschung und rechtsanthropologische Fragen.