Im westafrikanischen Burkina Faso wächst das Operndorf des 2010 verstorbenen Künstlers Christoph Schlingensief weiter. Bekannt ist das millionenschwere Projekt jedoch vor allem im deutschsprachigen Raum.
"Ein Operndorf? Wo soll das sein? Etwa hier in Ouagadougou?“ Taxifahrer Amadou schüttelt verwundert den Kopf. Er hat seinen uralten, knallgrünen Mercedes am Rande einer belebten Straße des Zentrums geparkt und wartet auf Kundschaft. Ungläubig fragt er dann noch einmal nach: „Ein Operndorf? Was ist das überhaupt?“ Von einem solchen Projekt hat er in seiner Heimat Burkina Faso noch nie gehört. Geschweige denn hat eine Kundin oder ein Kunde je gefragt, wie viel die Fahrt dorthin kosten würde. Wie dem Taxifahrer geht es vielen Menschen in der burkinischen Hauptstadt.
Wer nicht direkt mit der Kunstszene zu tun hat, dem sagt der Name nichts. Dabei hat das Operndorf in deutschsprachigen Medien für Schlagzeilen gesorgt wie selten ein Projekt in Afrika in den vergangenen Jahren. Plötzlich ging es einmal nicht um Krisen und Kriege, Hungersnöte oder HIV-Infektionsraten. Stattdessen kündigte Christoph Schlingensief, Theater- und Filmregisseur sowie Aktionskünstler, an, in Afrika eine Oper bauen zu wollen. Nach Besuchen in Kamerun, Namibia, Mosambik und Simbabwe hatte er sich für Burkina Faso als Standort entschieden. Vor vier Jahren, als er sein Vorhaben bekannt machte, hörte sich das allenfalls wie ein schlechter Scherz, die verrückte Idee eines Künstlers an.
Mozart und Wagner in der Wüste also. Warum auch nicht? Schlingensief hatte schließlich in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig mit spektakulären Aktionen für Aufmerksamkeit gesorgt. 1998 gründete er etwa vor der Bundestagswahl in Deutschland die Partei „Chance 2000“, auf deren Wahlplakaten „Wähle Dich selbst“ stand. Im Wahlkampf forderte er vier Millionen Arbeitslose auf, gemeinsam mit ihm im Wolfgangsee, dem Urlaubsort des früheren CDU-Bundeskanzlers Helmut Kohl, zu baden. Eine seiner letzten Inszenierungen wurde 2009 im Wiener Burgtheater aufgeführt. Damals war schon bekannt, dass Schlingensief an Lungenkrebs erkrankt war. Genau das steht in „Mea Culpa“ im Mittelpunkt. Die Krankheit hielt ihn auch nicht davon ab, sein Operndorf-Projekt weiter voran zu treiben, die Idee langsam Wirklichkeit werden zu lassen und finanzkräftige Förderer zu gewinnen.
Auch im Zentrum von Ziniaré, einem unscheinbaren Durchgangsstädtchen 30 Kilometer östlich von Ouagadougou, weist noch nichts auf das Operndorf hin. Eine Bank macht für sich Werbung, ein Restaurant kündigt besonders gutes Essen an. Für das Operndorf gibt es erst vier Kilometer weiter außerhalb ein schlichtes Hinweisschild in Weiß mit dem Aufdruck „Village Opéra de Christoph Schlingensief“. Von Ouagadougou hat die Fahrt hierher knapp eine Stunde gedauert. Die asphaltierte Straße ist gut. Trotzdem empfinden manche die Entfernung als weit – zu weit weg von der Hauptstadt. Wer würde sie an einem Abend nur für eine Aufführung auf sich nehmen?
Rupert Neudeck, dessen Hilfsorganisation Grünhelme derzeit die Krankenstation baut, hält die Standortwahl jedoch für richtig. Vor einigen Jahren las Neudeck Schlingensiefs Buch „So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein“, war tief bewegt und lernte den Künstler persönlich kennen. „Er war bei mir zu Hause“, erinnert sich Neudeck, der Ende der 1970er Jahre tausende vietnamesische Flüchtlinge mit dem Schiff „Cap Anamur“ rettete, an eine Begegnung mit Schlingensief. Sie diskutierten, sprachen über Vorstellungen, und Schlingensief habe schließlich zwei Ideen von ihm übernommen, so Neudeck. „Eine davon setzte er auch um: Unbedingt mit dem Zentrum nicht in die Hauptstadt zu gehen.“
Ein afrikanisches Festspielhaus ist so ziemlich das Letzte, was man am Ende der sandigen Piste vermutet, die nun direkt zum Operndorf führt. Rechts und links ein paar Felsbrocken. Ein paar Ziegen liegen träge im Schatten. Ausgerechnet hier im Dörfchen Laongo hat die burkinische Regierung 14 Hektar Land für das Projekt zur Verfügung gestellt, die Grundsteinlegung erfolgte im Februar 2010 – nur sechs Monate vor Schlingensiefs Tod. Ganz unbekannt war die Gegend zumindest bei KünstlerInnen auch vorher nicht: Bereits 1989 wurde in direkter Nachbarschaft ein Skulpturenpark eröffnet. Seitdem treffen einander regelmäßig BildhauerInnen zu Symposien.
Burkina Faso ist ein Begriff in der internationalen Kulturszene. Vor allem bei CineastInnen ist das FESPACO, das panafrikanische Filmfestival in Ouagadougou, bekannt, das zum ersten Mal bereits 1969 stattfand. Mittlerweile treffen sich alle zwei Jahre im Februar RegisseurInnen, SchauspielerInnen, Filminteressierte und Schaulustige in Ouagadougou. Etabliert hat sich auch das burkinische Jazz-Festival, zu dem sich erst Ende April westafrikanische sowie französische KünstlerInnen in Ouagadougou getroffen haben. Ob sich das Operndorf in diesem Rahmen bei BesucherInnen präsentiert hat, um es in Burkina Faso bekannter zu machen? Mahamoudou Nacanabo schüttelt den Kopf. Das sei bisher nicht geplant gewesen, sagt er. Der Operndorf-Mitarbeiter sitzt in seinem Büro, das zum bereits fertig gebauten Verwaltungstrakt gehört. Draußen knallt die Sonne vom Himmel. Es hat mindestens 35 Grad im Schatten. Dabei ist die größte Hitze in dem westafrikanischen Binnenland schon wieder vorbei, und die Regenzeit steht unmittelbar bevor. In dem Gebäude aus rotbraunem Stein ist es angenehm kühl, die Luftzirkulation gut. Verantwortlich für die Konzeption ist Architekt Francis Kéré, der als Student nach Deutschland ging, in seiner Heimat mehrere Schulen baute und in den vergangenen Jahren zahlreiche Architekturpreise erhielt. Wie Schlingensief ist er untrennbar mit dem Operndorf verbunden.
Was davon bereits steht, zeigt Mahamoudou Nacanabo nun den BesucherInnen. Er wirkt stolz, es geht voran. Er präsentiert Verwaltungsgebäude, LehrerInnenwohnungen und vor allem die Schule, die seit Oktober 2011 50 ErstklässlerInnen besuchen, 25 Mädchen, 25 Buben. Sie wirkt wie ein Meilenstein in der Entwicklung, denn endlich herrscht Leben – auch wenn die kleinen SchülerInnen gerade mucksmäuschenstill sind. Lehrer Amadou Caboré hat einige Zahlen an die Tafel geschrieben. Mathe-Unterricht muss sein, ebenso wie Französisch und Geschichte. Doch was die Schule auszeichnet, ist der Kunstunterricht. Die Kinder sollen malen, tanzen, singen – kreativ sein. „Das ist enorm wichtig“, sagt Caboré später in der großen Pause, in der sich alle in der Kantine versammeln und gemeinsam essen. Caboré steht neben der Eingangstür. Im Hintergrund lachen ein paar Kinder. Sie würden durch den speziellen Unterricht viel schneller lernen. „Dadurch sind sie extrem motiviert“, sagt er. Auch für Caboré ist die Schule eine Chance. Kunst- und Musikunterricht ist an vielen afrikanischen Schulen eine Ausnahme, mitunter schon deshalb, weil es schlichtweg kein Geld für Papier, Malfarben oder Instrumente gibt. Vor allem nicht in Burkina Faso. Es gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. 80 Prozent der Bevölkerung lebt vorwiegend von der Subsistenzlandwirtschaft.
Auch Till Gröner hat sich einen Teller mit Essen geholt. Heute gibt es Fisch. Gröner arbeitet als Grünhelm in Laongo. Er ist Architekt und für knapp sieben Monate Leiter der Krankenstationbaustelle. Sie liegt etwas abseits. Das Fundament steht bereits. Bisher ist Gröner zufrieden mit der Arbeit und dem Projekt. „Es ist etwas anderes als die übliche Entwicklungszusammenarbeit“, sagt er. Rupert Neudeck, der Schlingensief vor dessen Tod Unterstützung versprach, hat aber auch folgende Erfahrung gemacht: „Man kann sich mit dem Dorf nur identifizieren, wenn man tatsächlich hier lebt.“
Die Frage nach der Identifikation ist seit Baubeginn immer wieder aufgetaucht. Da kommt jemand aus Europa und setzt seine Idee von einem Operndorf mit aller Entschlossenheit um. Gleichzeitig sagte Schlingensief vor seinem Tod: „Ich will endlich mal Geld geben, ohne dass ich was dafür bekomme. Ich will von Afrika lernen, ich will nichts mehr diktieren. Vergessen wir das. 95 Prozent aller Afrika-Bilder seit meiner Kindheit sind von Weißnasen gemacht, alle Zeitungskommentare von weißen Leuten, fast nichts von Schwarzen. Aber das ist nicht das wirkliche Afrika. Also nichts wie weg da. Wir haben da nichts verloren. Wir hören jetzt mal auf mit der Förderung, von der wir uns was versprechen. Wir schicken das Geld da runter und sagen, macht damit, was ihr wollt. Produziert eure eigenen Bilder.“
Trotzdem soll das afrikanische Festspielhaus gebaut werden, mitten im Dorf, wie es Schlingensief wünschte. Später einmal sollen Opern und Theaterstücke aufgeführt, Filme gezeigt werden. Es könnte außerdem europäischen und afrikanischen KünstlerInnen die Möglichkeit zum Austausch bieten. Mahamoudou Nacanabo zeigt auf die bereits mit kleinen Pfählen abgesteckte Fläche. Ihre Anordnung erinnert an eine Schnecke, die ein Symbol für das langsame Heranwachsen eines großen Organismus ist. Ob dieser tatsächlich einmal so wie gedacht funktioniert, muss sich erst zeigen.
Katrin Gänsler ist Korrespondentin mehrerer deutschsprachiger Medien. Sie lebt in Lagos, Nigeria und Cotonou, Benin.
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