Der Rhythmus des Widerstands

Von John Jordan und Jennifer Whitney · · 2001/11

Die Aktionen des globalen Widerstands sind geprägt von Humor und Einfallsreichtum. Zwei „Drahtzieher“ der witzigen Rebellion sind John Jordan und Jennifer Whitney

Die US-Bundespolizeibehörde FBI hat „Carnival Against Capital“ – so werden viele der Massenaktionen bei internationalen Protesttagen von London bis Québec genannt – auf die Liste der gesuchten terroristischen Vereinigungen gesetzt. Aber „Carnival Against Capital“ ist keine Organisation. Es ist eine Fee in Rosa, ein getortetes Gesicht, ein Mann in einem Kleid, ein Feuerschlucker, ein Sambarhythmus. Es ist eine Taktik, in der sich der Geist des aktuellen Widerstands gegen den Weltkapitalismus ausdrückt. Und wenn das FBI diese Bewegung infiltrieren will, dann müssen sie dabei vielleicht Ballettröckchen tragen.

Waren die Teddybären, die von einem großen, mittelalterlich anmutenden Katapult gegen den sechs Kilometer langen Zaun rund um den Ort des Gipfeltreffens über die Amerikanische Freihandelszone in Québec geschleudert wurden, eine Bedrohung für die Hegemonie der Marktwirtschaft? Wird die KomödiantInnenarmee der „Weiße Overalls“-Bewegung, die sich zum Schutz Fußmatten und Pappkarton um den Leib wickeln und versuchen, mit Autoschläuchen als Schilder und Wasserpistolen gewaltlos Polizeikordone zu durchdringen, den Kapitalismus in die Knie zwingen?

Vielleicht ist die unwiderstehliche Attraktivität des Karnevals als Strategie und Taktik des Widerstands die wirkliche Bedrohung. Seine Kreativität ist ansteckend und völlig unvorhersagbar. Alles kann im Karneval passieren. Treffen der Welthandelsorganisation WTO werden blockiert. Das FBI weiß das, und sie sehen, wie er um sich greift. Überall auf der Welt herrscht ein neuer Geist, der neue Widerstandstaktiken erfindet und sich gegen die Eintönigkeit der rituellen Märsche von A nach B und die wortreichen Versammlungen wendet, an denen treue ParteigängerInnen passiv den langen Reden von „FührerInnen“ lauschen. Spontaneität und Freude sind angesagt. Um es mit den Worten eines Teilnehmers am Festival des Widerstands gegen die WTO in Seattle zu sagen: „Selbst wenn sie uns den Hintern versohlen, haben wir mehr Spaß als sie“.

Wenn Widerstand und Rebellion keinen Spaß machen, nicht jener Welt entsprechen, die wir gerne schaffen würden, dann kopieren wir bloß alte repressive Kampftaktiken, die Freude genauso wie die Gleichberechtigung der Rassen und Geschlechter auf eine Zeit „nach der Revolution“ verschieben. Karneval und Revolution haben das selbe Ziel: die gesellschaftliche Ordnung fröhlich und unbekümmert auf den Kopf zu stellen und unsere unbezähmbare Lust am Leben zu feiern, eine Lust, die zu zerstören sich der Kapitalismus so bemüht – mit seinem monotonen Karussell aus Arbeit und Konsum. Wir schaffen eine neue Welt, indem wir die jetzige auf den Kopf stellen.

Aber wie uns Eduardo Galeano zeigt, leben wir bereits in einer Welt, die auf dem Kopf steht, eine „trostlose, seelenlose Welt, die Maschinen abergläubisch verehrt und Waffen vergöttert, eine verkehrte Welt, in der Links und Rechts vertauscht sind, mit ihrem Nabel am Rücken und ihrem Kopf dort, wo die Füße sein sollten.“

Es ist eine Welt, in der Kinder arbeiten und nicht spielen, in der „Entwicklung“ die Menschen ärmer macht, wo Autos auf Straßen fahren, die Menschen gehören sollten, und in der eine winzige Minderheit den Großteil der Ressourcen verbraucht. Und er fragt: „Falls die Welt in ihrem aktuellen Zustand auf dem Kopf steht, müssten wir sie da nicht umdrehen, damit sie aufrecht steht?“

„Reclaim the Streets“ in London war eine der ersten zeitgenössischen Gruppen, die diese Mixtur aus Karneval und Revolution zuwege brachten, indem sie Rhythmus und Musik einsetzten und damit die Rebellion genauso attraktiv machten wie Tanzen. Im Juli 1996, bei einem illegalen Clubbing von 10.000 Menschen auf einer Londoner Stadtautobahn, waren auch zwei zehn Meter hohe Karnevalspuppen mit drei Meter breiten Reifröcken im Einsatz, die ständig in Bewegung waren. Verborgen unter den Röcken, unsichtbar für die Polizei und übertönt von der Musik, bohrten Leute mit Presslufthammern Löcher in den Straßenbelag und pflanzten junge Bäume. Zu hämmernden Techno-Beats wurde die Straße vorübergehend in einen Wald verwandelt.

Die vielfältigen Rhythmen des Widerstands wurden seither fortgeführt. Eine hundert Mitglieder starke Samba-Rhythmusgruppe mit selbstgebauten Schüttelinstrumenten war Teil eines riesigen improvisierten Festblocks in Prag; die berüchtigte „Infernal Noise Brigade“ lieferte mitten in den erstickenden Tränengaswolken und Polizeiattacken in Seattle und Prag den Soundtrack zum Aufstand. Die Bands sorgen für Spaß, helfen aber auch, Massen zu bewegen, schaffen Verstärkungen in Situationen äußerster Spannung herbei und geben unmittelbar an Aktionen beteiligten Leuten neuen Mut. Karneval kann ohne Musik nicht existieren. Musik und Rhythmus überwinden die Grenzen von Nation, Ideologie und Klasse; wie der Karneval verkörpern sie Selbstorganisation und motivieren Menschen dazu, „auf den Ruinen der Multis zu tanzen“, wie es Casey Neil besingt.

Wie es bei einem echten Karneval keine ZuschauerInnen gibt, so gibt es bei einem heutigen antikapitalistischen Karneval keine FührerInnen. Er ist die Verkörperung der Vielfalt, jede Meinung wird gehört und unterschiedlichste Gruppen interagieren miteinander. Auf den Treffen von Sprecherräten, wo SprecherInnen jeder Gruppe gehört werden sollen, die an einem Aspekt der Aktion arbeitet, herrscht eine dynamische direkte Demokratie.

Ein Karneval ohne Teilnahme ist keiner. Er beseitigt die Hierarchie, denn der Narr wird zum König. Er ist eine Zeit, um die Freude an der persönlich erlebten Demokratie zu feiern, einer Demokratie, die auf der Bühne des sich spontan entfaltenden Lebens stattfindet, nicht abgehoben vom Publikum, sondern am Parkett, denn es gibt keine ZuschauerInnen, keine Logenplätze, nur ein Getümmel vieler Akteure, die tun, wonach ihnen ist, während sie sich als Teil eines größeren Ganzen fühlen. Gemeinsame Ziele und Ideale, Symbole und Visionen sorgen für Einheit in einem Moment intensiver Teilnahme. Wie Goethe sagte, ist der Karneval „ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt“.

Wenn also das FBI „Carnival Against Capital“ als terroristische Vereinigung einstuft, offenbart es uns seine größten Ängste – und vielleicht seine größte Schwäche. Unfähig zu fließendem Denken, eingesperrt in hierarchische Strukturen, können sie die vielfältige Dynamik des Karnevals nicht verstehen, wo jede und jeder für einen Moment eine führende Rolle einnehmen kann, um dann wieder im Menschenmeer unterzugehen. Und während sie versuchen, Gruppen zu isolieren, zu beeinflussen und zu infiltrieren, als Teil ihrer Bemühungen, diese unterschiedlichen und vielfältigen Bewegungen zu zerschlagen, erblühen unsere Spontaneität, Unberechenbarkeit und Unwiderstehlichkeit und streuen Samen der Inspiration in alle Kulturen und Kontinente.

Wir lernen, miteinander zu arbeiten, es fällt uns leichter, menschlich zu sein, und wir sind fähig, prophetisch zu leben, im radikalsten aller Karnevale – einer Welt, die nicht auf die Zukunft wartet, einer Welt, die das Paradoxe einbezieht, einer Welt, die viele Welten umfasst.


Lachen

Einfach nur lachen, einen ganzen Tag lang. Das taten 50.000 BäuerInnen aus dem südindischen Bundesstaat Karnataka vor dem Sitz der lokalen Regierung. In der Woche darauf warf die Regierung das Handtuch.

Die Luftwaffe der Zapatistas

In Chiapas attackierte 1999 die „Zapatistische Luftwaffe“ einen Militärstützpunkt in Amador Hernández – mit Hunderten Papierfliegern. Auf jedem stand eine Botschaft: „Soldaten, wir wissen, dass die Armut euch dazu gebracht hat, euer Leben und eure Seele zu verkaufen. Auch ich bin arm, wie Millionen andere. Aber ihr seid schlimmer dran, denn ihr verteidigt unseren Ausbeuter – [Präsident] Zedillo und seinen Geldbeutel.“

Aufstand

Bei den Protesten gegen die Amerikanische Freihandelszone in Québec wurden 4.000 Halstücher, bedruckt von einem Kunstkollektiv, gratis in den Straßen verteilt. Sie schützten die TrägerInnen vor der dauernden Polizeiüberwachung, und sie waren auch gegen die 6.000 Kanister Tränengas eine gewisse Hilfe, die innerhalb von zwei Tagen verschossen wurden. Band man/frau sie sich um, verwandelte sich der auf den Tüchern aufgedruckte lachende Mund in den eigenen.


John Jordan und Jennifer Whitney sind oft bei antikapitalistischen Aktionen anzutreffen, wo sie gemeinsam Freude und Rebellion organisieren und miteinander vermischen. copyright New Internationalist

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