Der Reichtum der Adivasi

Von Mari Marcel Thekaekara · · 1999/05

Die nicht-materielle Seite der Armut wird in der öffentlichen Diskussion oft übersehen. Die Inderin Mari Marcel Thekaekara hat in Südindien, Glasgow und Deutschland danach gesucht.

Bist du arm oder reich?“ wurde meine 11jährige Tochter Tahira von ihrer englischen Cousine Leila gefragt. „Wir sind nicht richtig arm“, antwortete sie zögernd, „aber reich sind wir auch nicht.“

„Das ist dumm“, beharrte Leila, „du mußt das eine oder das andere sein.“

„Im Vergleich zu den Adivasi (Stammes)-Kindern zu Hause sind wir reich“, erklärte Tahira, „aber im Vergleich zu unseren Cousinen in Amerika sind wir arm“.

Das nächste Gespräch war nicht minder aufschlußreich. „Habt ihr ein Auto?“

„Nein, aber wir können jederzeit den Projekt-Jeep nehmen, wenn wir eines brauchen.“

„Habt ihr einen Fernseher?“ „Nein, aber meine Oma hat einen. Wir schauen bei ihr.“

„Hast du Calvin-Klein-Jeans?“ Tahira wußte damals so gut wie nichts über Jeans, aber sie hatte einige ganz schicke Erbstücke von ihren amerikanischen Cousinen.

Für die kleine Leila war die ganze Sache verwirrend. In ihrer Vorstellung gab es eine klare Trennung zwischen arm und reich und keinen Platz für einen Mittelweg.

Während unseres Aufenthalts in Großbritannien wurden unsere Konzepte von Reichtum und Armut laufend auf die Probe gestellt, insbesondere, da wir die letzten zehn Jahre unserer Arbeit mit Adivasi in den Nilgiri-Bergen in der Provinz Tamil Nadu verbracht hatten.

„Arm möchte ich lieber in Indien sein“, hat vor Jahren einmal ein Franzose zu mir gesagt. „Was für ein ausgemachter Unsinn, wieder einer, der Indien mit seiner Armut und allem romantisiert“, dachte ich damals.

Im Jahr 1994 hatten mein Mann Stan und ich im Rahmen eines Nord-Süd-Austausches dann Gelegenheit, innerstädtische Wohnanlagen in England und Schottland zu besuchen.

Von der Easterhouse-Siedlung in Glasgow hatte man uns zuvor gesagt, sie gelte als schlimmste Slumgegend Europas. „Lächerlich“ dachten wir. Diese Leute haben eine sicheres Dach über dem Kopf, Strom, Kalt- und Warmwasser, Kühlschränke und Gas- oder Elektroherde. Nach indischem Standard bedeutet das Mittelklasse-Luxus.

Bilder von blutarmen, ausgezehrten indischen Frauen, die Wasser mühsam in Behältern nach Hause schleppen, tauchten in meinem Kopf auf. Hütten ohne Elektrizität. Frauen, die Tag für Tag nach Feuerholz suchen, dankbar für jedes Kilo Reis, um ihre Familien am Abend sattzukriegen.

Aber dann begannen wir plötzlich zu verstehen. Die meisten der Männer von Easterhouse hatten seit 20 Jahren keinen Job. Sie waren entmutigt und deprimiert, häufig Alkoholiker ohne jedes Selbstwertgefühl.

Auch wenn die physische Belastung der Armut für sie vergleichsweise nicht so spürbar war, so ging es diesen Menschen zumindest geistig und emotional bedeutend schlechter als den Armen in Indien.

Wir waren in die Falle getappt, Armut nur von ihrem materiellen Aspekt her zu betrachten. Äußerlich gesehen scheint es den Easterhouse-Leuten besser zu gehen als den Armen in Asien, doch in Wirklichkeit müssen sie die gleiche soziale Ausgrenzung erdulden.

Wir begegneten jungen Menschen, die auf ihrer Arbeitsuche ständig die Erfahrung machen mußten, daß ihnen ihre Wohnadresse und ihr Akzent die Chancen auf einen Job erschwerten.

In Dudley erlebten wir, wie eine Sozialarbeiterin einem Jugendlichen eine ordentliche Jacke besorgte, weil er nichts Entsprechendes besaß, um überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch gehen zu können. Es war herzerwärmend zu sehen, wie er den Job daraufhin tatsächlich bekam. Gleichzeitig fühlten wir uns aber an jene Adivasi-Kinder zu Hause erinnert, denen die Lehrer zuerst Kleider geben müssen, damit sie zur Schule kommen können.

Unser Gastgeber in Easterhouse, der Sozialarbeiter und Autor Bob Holman, zeigte uns unterenwickelte schottische Kinder. Eine ganze Generation war in ihrem Wachstum einen Kopf kleiner als ihre Eltern und Großeltern geblieben. Unterernährung in Großbritannien – das hat selbst uns verblüfft, denn Proteinmangel kannten wir bis dahin nur als Dritte-Welt-Problem.

Es fiel uns auch auf, daß selbst die in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen Menschen arm und reich nur von einem sehr engen Standpunkt her definieren. Geld bleibt dabei der einzige Maßstab. In zahlreichen Artikeln las ich, daß man notleidend sei, wenn man nur einen Dollar pro Tag verdient.

In Indien (und ich bin überzeugt, auch in anderen Teilen der Welt) ist ein Dollar pro Tag für einen armen Menschen ein anständiger Lohn. Für einen Europäer oder Nordamerikaner hingegen ist es schockierend wenig.

Die meisten von uns begehen den Fehler, in der Erleichterung der physischen Auswirkungen von Armut bereits die Lösung allen Übels zu sehen. Höhere Löhne und materieller Wohlstand werden als Ideale angestebt. Und trotzdem kritisieren wir – auf einer völlig anderen Ebene – den Konsumismus, der heute arm und reich gleichermaßen überrollt.

Anläßlich einer Rückschau auf die Ergebnisse von zehn Jahre Zusammenarbeit mit den Adivasi formulierten diese 1995 erstmals ihre eigene Auffassung von Reichtum: „unsere Gemeinschaft, unsere Kinder, unsere Einigkeit, unsere Kultur, unser Wald“. Geld kam darin überhaupt nicht vor. Wir Nicht-Adivasi im Team waren perplex.

Je länger wir mit ihnen ihre Vorstellungen von Armut diskutierten, umso mehr wurde uns klar, daß sich die Adivasi selbst überhaupt nicht für arm hielten. Sie betrachteten sich als Leute ohne Geld.

Auf Anregung der Hilfsorganisation „Community Aid Abroad“ luden wir eine Gruppe australischer Aborigines ein, uns zu besuchen.

Einige berichteten von ihrem persönlichen Schicksal, wie sie als Kinder von ihren Eltern getrennt und entweder von weißen Familien in Obhut genommen oder in Heime gesteckt worden waren. Noch Monate nach ihrer Abreise redeten die Adivasi über die BesucherInnen. „Wieviel Leid diese armen Menschen erdulden mußten“, sagten sie, „unsere Probleme sind nichts im Vergleich zu dem, was sie durchgemacht haben.“

Für einen außenstehenden Beobachter mag es vielleicht ironisch klingen, wenn ein von Armut gebeutelter Inder einen Australier bemitleidet, aber unsere diesbezüglichen Erfahrungen wurden bei unserem Deutschland-Besuch erst recht surreal.

Zwischen unserem Projekt und einer Gruppe von deutschen StudentInnen hatte bereits ein sechsjähriger Kontakt bestanden, als wir von dort eine Einladung bekamen. Dies war eine völlig neue Herausfordung für sie, ein Riesensprung heraus aus ihrer Welt der Dörfer, Wälder und Berge hinein in das superzivilisierte Deutschland. Auch wir fragten uns, wie sie wohl auf die plötzliche Konfrontation mit so viel materiellem Wohlstand reagieren würden.

Ihre Reaktionen aber waren für mich mehr als überraschend. Erst später verstand ich, was ihre Wahrnehmung so besonders machte. Sie betrachteten den Westen nicht als jenes gelobte Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie es die Einwanderer und TouristInnen mit ihren Einkaufslisten üblicherweise tun. Die Adivasi waren nicht auf der Jagd nach deutschen Qualitätsartikeln. „Es ist sehr schön hier“, sagte Cathi, eine der sechs, „aber ich könnte niemals hier leben. Das ist kein Platz für mich. Man braucht seine Familie, seine Gemeinschaft, seine eigenen Leute um sich. Geld allein macht noch kein Leben. Dabei würde ich verkümmern und sterben.“

Beim Anblick eines Altersheims waren sie sprachlos. So etwas war ihnen völlig fremd. „Wie können nur Kinder ihre alten Eltern fortschicken, um alleine zu leben?“, wunderten sie sich.

Die Adivasi waren schockiert über die Allgegenwart des Themas Arbeitslosigkeit, das einige unserer jungen Freunde bedrückte. Als ihr Gastgeber Karl eines Tages nach Hause kam und die Befürchtung äußerte, er könnte schon bald seine Anstellung verlieren, nahmen sie ganz besonders daran Anteil. Bomman sorgte sich die ganze Nacht, was er tun könnte, um seinem Freund zu helfen. Am nächsten Morgen erklärte er: „Ich werde in Gudalur Bambusflöten machen und Karl kann sie hier verkaufen, solange er keine Arbeit hat.“

Karl behielt letztendlich seinen Job, doch es war für alle bewegend zu sehen, welche Sorgen sich Bomman gemacht hatte. Dabei wurde spürbar, daß er sich selbst nicht als arm empfand, obwohl er es gemessen an den Maßstäben von Karls Familie ganz offensichtlich war.

Die deutschen Freunde überreichten der Gruppe warme Kleidungsstücke und Geschenke für ihre Familien. Sie waren glücklich, etwas für ihre Kinder mitbringen zu können.

Doch das Geschenk, das Bomman und die Adivasi am meisten schätzten, waren der Respekt und die Würde, mit der sie in Deutschland als gleichwertige Menschen behandelt wurden. Darin lag eine fürchterliche Anklage gegen die indische Gesellschaft. Ich war tief beschämt angesichts der Erkenntnis, daß diese Menschen in diesem einen Monat in Deutschland mehr Achtung und Gleichwertigkeit erlebt haben als in ihrem ganzen Leben in Indien.

Mari Marcel Thekaekara ist Co-Redakteurin jener NI-Ausgabe, aus der dieser Beitrag übernommen ist. Sie lebt und arbeitet mit Adivasi in Gudalur (Indien).

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