Als John Perry Barlow 1996 beim Weltwirtschaftsforum in Davos „A Declaration of the Independence of Cyberspace“ verkündete, hatten die idealisierenden Vorstellungen über das Wesen des Internet wohl ihren Höhepunkt erreicht. Der Ex-Viehzüchter, ehemalige Songtexter und Internetaktivist aus den USA sprach in dieser Deklaration von „einer Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft“. Und weiter: „Unsere persönlichen Identitäten haben keine Körper, so dass wir im Gegensatz zu Euch [Anm.: gemeint sind die Regierungen der Welt] nicht durch physische Gewalt reglementiert werden können. Wir glauben daran, dass unsere Regierungsweise sich aus der Ethik, dem aufgeklärten Selbstinteresse und dem Gemeinschaftswohl eigenständig entwickeln wird.“ Barlow konstatiert einen virtuellen – von der realen Welt losgelösten – Raum der Freiheit, der kurz zuvor durch regulierende Internetgesetzgebung der US-Regierung eingeschränkt werden sollte.
Heute wird das Internet nur noch von Wenigen als virtueller Raum oder Cyberspace verstanden. Das Internet ist Teil der ganz realen Welt vieler Menschen. In ambivalenter Weise treffen weitreichende Freiheiten der Publikation und Interaktion mit immer restriktiveren Gesetzen (Urheberrecht, Vorratsdatenspeicherung, den in Diskussion befindlichen Online-Durchsuchungen von Computern, Zensur z.B. in China …) sowie den Disparitäten bei der Internetnutzung entlang der Kategorien wie Alter, Geschlecht, Einkommen, Herkunft, Bildung, Alphabetisierung und Wohnort zusammen.
Der Digital Divide, die Spaltung der Gesellschaft in NutzerInnen und NichtnutzerInnen, bedeutet zum Beispiel, dass nur 26% der über 60-jährigen ÖsterreicherInnen das Internet nutzen, während dies 94% der 20- bis 29-jährigen dies tun. Lediglich 3,6% der Menschen in Afrika kommunizieren mittels Internet im Vergleich zu 69,7% in Nordamerika.
Netzkompetenz als Partizipationskompetenz: Während unter Medienkompetenz oft lediglich der reflektierte Konsum von Information aus Zeitung, Radio oder TV verstanden wurde, erfährt dieser Begriff mit den Partizipationsmöglichkeiten des Web eine Bedeutungserweiterung. Im Web 2.0 steht die Produktion von Inhalten durch die NutzerInnen – „User Generated Content“ – im Vordergrund.
Während Bertolt Brechts „Radiotheorie“ mit dem Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks („Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln“) aufgrund der (fehlenden) technischen Voraussetzungen nicht umzusetzen war, ist Dialog und Interaktion mit den einfach zu verwendenden Werkzeugen des Web 2.0, wie Weblogs und Wikis, eine sich rasch ausbreitende Praxis im Internet. In der „Blogosphäre“, dem Geflecht der Weblogs, ist der Wunsch Brechts aus den frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts Wirklichkeit geworden: „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ Der Hörfunk könne den Austausch, Gespräche, Debatten und Dispute ermöglichen.
Web 2.0 ist ein Sammelbegriff, der neue Entwicklungen der letzten Jahre beschreiben soll. Dazu gehören beispielsweise RSS und Ajax. RSS ermöglicht die sehr einfache Verbreitung und den Empfang von Information. Ajax lässt es zu, dass Anwendungen im Browser wie Desktop-Programme benutzt werden können. Neben der technischen Innovation zeichnet sich das Web 2.0 insbesondere durch neue Eigenschaften wie Authentizität, Vertrauenswürdigkeit, Reputation und persönliche Netze aus. In diesem Zusammenhang spricht man von „Social Web“ oder „Social Software“. Mario Sixtus stellte in der Wochenzeitung „Die Zeit“ fest: „Und im Unterschied zu früher versteckt sich hier keiner mehr hinter Decknamen, niemand hantiert mehr folgenlos im luftleeren Raum, die virtuelle Welt ist realer geworden. Die Akteure treten auf wie im echten Leben, lernen einander kennen, knüpfen private und berufliche Kontakte.“
Im Iran berichten Menschen in mehr als 700.000 Blogs in Text, Bild, Video und Audio regelmäßig über ihren Alltag. Sie zeichnen ein subjektives und deshalb besonders vielfältiges Bild ihres Landes, in dem es keine freie Presse gibt. Nach Ansicht des iranischen Bloggers Hossein Derakhshan, der seit fünf Jahren in Kanada lebt (www.hoder.com), würden Weblogs im Iran dennoch weitgehend toleriert werden, da sie bereits als Teil der iranischen Kultur aufgefasst – selbst Präsident Ahmadinejad führt ein Weblog – und auch von Religiösen und Regimetreuen als Medium benutzt werden. Hossein Derakhshan hat in seinem Blog „Editor: Myself“ zum Beispiel aus Israel über Israel für ein persisches Publikum berichtet (http://rungholt.wordpress.com/).
Weblogs ermöglichen Informationsaustausch und Dialog zwischen den Menschen, auch wenn deren Regierungen verfeindet sind.
Die gar nicht mehr so „heimliche Medienrevolution“, von der Erik Möller in seinem gleichnamigen Buch spricht, scheint die Welt in vielen Bereichen zu verändern.
Pressefreiheit ist nicht mehr auf diejenigen beschränkt, denen die Medien gehören. Man kann von einem Ende des „Gatekeeper-Zeitalters“ ausgehen. Das US-Magazin „Time“ wählte „You“ zur „Person des Jahres 2006“ und meinte damit alle Menschen, die als „Citizen Journalists“ das Internet mit eigenen Inhalten füllen. Weblogs, Wikis, Podcasts (Audios im Internet), Foto- und Videoplattformen wie Flickr und YouTube ziehen schon jetzt immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Etablierte Medien fürchten um Auflagen und Einschaltquoten und bemühen sich, ihre LeserInnen verstärkt in die Produktion der Inhalte einzubinden.
Da politische Willensbildungsprozesse von medialen Diskursen in großem Ausmaß mitbestimmt werden, kann die Partizipation von BürgerInnen an der Medienproduktion eine (nicht die einzige!) Voraussetzung für politische Partizipation sein. Bei vielen BeobachterInnen besteht daher die Hoffnung auf Wiederaneignung des politischen Prozesses durch die BürgerInnen auf Basis der neuen Technologien. Allerdings ist politische Partizipation von weiteren Faktoren – wie zum Beispiel Transparenz der politischen Prozesse und Partizipationskultur – abhängig. Dennoch ist sicher, dass sich die Zivilgesellschaft über die neuen Kommunikationskanäle Gehör verschaffen kann und so zumindest zum Agenda-Setting, wie die Themen des G8-Gipfels in Deutschland zeigten, beitragen kann.
Die eigene Meinung für alle sichtbar zu publizieren und sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen kann nicht ohne Einfluss auf die mediale, gesellschaftliche und politische Sphäre bleiben.
Es wurden jedoch schon oft Innovationen in der Telekommunikation mit Demokratie-Utopien verbunden, in der Hoffnung, dass sie offenbare Unzulänglichkeiten der Vergangenheit überwinden sollten: Aus der Transatlantikverkabelung der 1860er Jahre und dem Ausbau der Telegraphie wurde eine „technisch gestützte Eintracht der Völker dieser Welt, mit der Aussicht auf nichts weniger als den Weltfrieden“ abgeleitet, wie Frank Hartmann in seinem Buch „Globale Medienkultur“ schreibt. Dennoch lassen die neuen Möglichkeiten des Internet Hoffnung keimen. Noch nie waren der Zugang und die Allgegenwärtigkeit (beispielsweise auch über mobile Geräte) so weit verbreitet und damit demokratisiert wie heute.
Technik allein ist aber noch nicht entscheidend für die demokratischen Entwicklungschancen. So ist ein Orwell’scher Überwachungsstaat ebenso denkbar wie eine weitgehend offene Weltgesellschaft, die sich durch grenzenlose Kommunikation und kulturelle Vielfalt auszeichnet. Es liegt an uns, dafür einzutreten, dass die bereits für 1984 angekündigte Schreckensvision keine Chance hat.