Viele der ehrgeizigen Pläne von Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez sind gescheitert, die Abhängigkeit vom Erdöl ist größer denn je. Die Regierung ist von Militärs durchsetzt und nicht von Fachleuten, berichtet aus Caracas Südwind-Mitarbeiter Ralf Leonhard.
Im Stadtteil Andrés Eloy Blanco der venezolanischen Hauptstadt ist die Welt noch in Ordnung. Bei den Parlamentswahlen vom 26. September wurde in diesem Viertel eine klare Mehrheit für die PSUV, die sozialistische Einheitspartei von Präsident Hugo Chávez, ausgezählt. 1.495 Stimmen entfielen auf die Regierungspartei, weniger als die Hälfte, nämlich 622, auf die Opposition. Das entspricht nicht ganz der selbstbewussten Darstellung von Nelly Villamizar, die wenige Wochen vor dem Urnengang gemeint hatte, mehr als 50 „Verwirrte“ würde es nicht geben. Und die könne man durch gutes Zureden von der gerechten Sache überzeugen. Nelly Villamizar ist Mitglied der lokalen Basisorganisation und war natürlich bei der Vorbereitung und Abwicklung der Wahlen engagiert.
Sie hat allen Grund, die Politik von Hugo Chávez zu preisen. Seit 1999, seit der ehemalige Fallschirmjägeroffizier an der Macht ist, hat sich für sie vieles zum Positiven verändert. Gesundheitsversorgung und Alphabetisierungsprogramme sind flächendeckend in die ehemals vernachlässigten Armenviertel gekommen. An der Wand hängt ein Farbfoto, das sie mit einem Diplom zeigt. Sie hat vor wenigen Monaten die Matura bestanden – fast gleichzeitig mit ihren Kindern. Auch ihre Mutter, die mit 66 gerade die Grundschulbildung absolviert hat, will noch die Reifeprüfung machen. Teure Laboruntersuchungen gibt es heute gratis und medizinische Behandlungen hängen nicht länger vom Umfang der Geldbörse der Patienten ab.
Vielleicht das Wichtigste: die Menschen werden ernst genommen. In den Bürgerräten beraten sie sich über die Probleme und Bedürfnisse ihres Wohnbezirks, können Projekte vorschlagen und diese zur Finanzierung an das jeweils zuständige Ministerium weiterleiten. In der Regel wird das Geld für die gewünschte Maßnahme genehmigt. Sollten die lokalen VertreterInnen sich an diesen Geldern bedienen, können sie per Mehrheitsbeschluss abgesetzt werden. Das passiert auch. Nicht im Stadtteil Andrés Eloy Blanco, wie José Luis Guaina vom Bürgerrat versichert, aber in einem Nachbardistrikt sei der komplette Vorstand wegen Korruption abberufen worden. So sieht es die Verfassung von 1999 vor, die Venezuela zu einer partizipativen Demokratie gemacht hat.
Für die Bewohnerinnen und Bewohner der Armenviertel ist Hugo Chávez mehr als ein Politiker. Vielmehr wird der Präsident, der gerne im militärischen Outfit auftritt, wie ein Popstar verehrt. „Erstmals in der Geschichte gibt es einen Präsidenten, mit dem wir zufrieden sind. Ich glaube nicht, dass wir einem anderen vertrauen könnten“, schwärmt Nelly Villamizar. Hugo Chávez lacht von Wandmalereien mit revolutionären Sprüchen, und seine sonntäglichen Auftritte im Fernsehprogramm Aló Presidente haben Kultstatus erlangt. Allerdings sind seine Pläne, der Republik den Sozialismus zu bescheren, keineswegs mehrheitsfähig. Die Parlamentswahlen, die der Regierungsallianz von PSUV und Kommunistischer Partei eine klare Mehrheit von 60 Prozent der Sitze brachten, müssen dennoch als deutliches Warnsignal verstanden werden. Denn nur dank „kreativer“ Neugestaltung der Wahlkreise konnte sich Chávez gegen eine Schlappe schützen. Zählt man die Stimmen zusammen, dann hat die Opposition insgesamt sogar eine knappe Mehrheit erreicht.
Sozialismus, auch wenn er mit dem Zusatz „des 21. Jahrhunderts“ vom Realsozialismus osteuropäischer Prägung abgegrenzt wird, riecht für die Mehrheit der VenezolanerInnen nach Mangelwirtschaft und Verlust von Freiheit. Die immer engeren Verbindungen zu Kuba sind nicht geeignet, solche Befürchtungen zu zerstreuen.
Der Wirtschaftsforscher José Manuel Puente ist im Übrigen der Meinung, dass ein sozialistisches Modell gar keine realistische Option für ein Land sei, das seit Generationen von den Erdölerträgen lebt: „Früher oder später wird die Revolution an der Wirklichkeit zerschellen.“ Ohne eine gründliche Umerziehung, was die Konsumgewohnheiten betrifft, würde es nicht gehen. So zeigen die Zahlen der Zentralbank, dass sich die Importe seit 2004 verfünffacht haben. Puente: „Wir gehören hier weltweit zu den Spitzenkonsumenten von Whisky, von Flachbildfernsehern, von Blackberries.“
Dazu komme, dass Venezuela neben Haiti das einzige Land des Kontinents sei, wo die Wirtschaft schrumpft. Venezuela steckt seit Anfang 2009 in einer Rezession, verstärkt durch eine Inflationsrate um die 30% – ein negativer Spitzenwert in Lateinamerika.
Hugo Chávez war angetreten, die Abhängigkeit vom Öl zu durchbrechen, die Wirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen und die fast völlig verschwundene landwirtschaftliche Produktion wiederzubeleben. Diese Pläne sind dramatisch gescheitert. In den letzten Jahren ist der Anteil der Nicht-Ölexporte an der Gesamtausfuhr deutlich zurückgegangen. Machten die Nicht-Öl-Exporte im Jahre 1999 noch 20 Prozent aus, so waren es zehn Jahre später nur mehr fünfeinhalb Prozent. Puente sieht eines der Probleme im Fehlen von Fachleuten in der Regierung: „Es gibt keinen Ökonomen. Daneben wirkt sich die dogmatische Politik verheerend aus – ein ideologisches Problem. Drittens gibt es Gruppen mit üblen Absichten. Sie wollen die Industrie zerstören und den Sozialismus auf den Ruinen aufbauen.“
Hugo Chávez umgibt sich lieber mit politisch loyalen Mitarbeitern als mit Leuten, die etwas von ihrem Fach verstehen. Vielleicht ist es die Lehre, die er aus dem Putsch von 2002 zog, als er von einigen Vertrauten und einem Teil der Armee verraten wurde und zwei Tage lang eingesperrt war. Der Verschleiß von Personal in Spitzenpositionen ist seither jedenfalls größer. So kommt es, dass der aktuelle Wirtschaftsminister die Wirtschaft weder von der Universität noch aus der Praxis kennt und der Außenminister keine einzige Fremdsprache beherrscht. Die Regierung ist von Militärs durchsetzt, die vor allem gewohnt sind, Befehle zu geben und zu befolgen.
Das neue Parlament wird es Hugo Chávez nicht mehr erlauben, Verfassungsgesetze nach Belieben zu verändern. In der Vergangenheit hat sich der Präsident aber als einfallsreich erwiesen, wenn seine Pläne auf demokratischem Weg nicht durchzusetzen waren. So schuf er, nachdem die Hauptstadt Caracas vor zwei Jahren an die Opposition fiel, die übergeordnete Instanz der Hauptstadtkoordination, in der er mit Jacqueline Faría eine enge Vertraute einsetzte. Symptomatisch für den Umgang mit unbequemen Gesetzen ist der Fall der Richterin María Lourdes Affiuni, die gegen einen Unternehmer wegen Korruption ermittelte. Da der Mann bereits zwei Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatte und die UN-Menschenrechtskommission sich einschaltete, musste sie ihn – in Einklang mit den venezolanischen Gesetzen – freilassen. Ihr Pech, dass der Mann sich umgehend ins Ausland absetzte, sei es weil er schuldig war oder keinen fairen Prozess erwartete. Der Zorn des Präsidenten ließ nicht auf sich warten. In einem Fernsehauftritt verfügte er die Festnahme der Richterin und lieferte auch gleich das gewünschte Strafausmaß mit.
Bei der Verfolgung der wirklichen Kriminellen tut sich die Justiz hingegen schwer. Nach offiziellen Daten bleiben 96 Prozent der Morde straflos. In den Barrios regieren konkurrierende Jugendgangs, bestens organisierte Kidnapperbanden sind mit der Polizei vernetzt. Teodoro Petkoff, ehemaliger Kommunist und Guerillero, der heute die oppositionelle Zeitung Tal Cual herausgibt, vermisst eine langfristige Vision, die mit effektiven Maßnahmen polizeilicher Repression kombiniert werden müsse: „Deswegen sind alle Pläne zur Verbrechensbekämpfung gescheitert. Die verschiedenen Sicherheitskörper sind korrupt, schlecht bezahlt und schlecht ausgebildet.“ Wer die schikanösen Kontrollen auf dem Flughafen einmal miterlebt hat, kann das nachvollziehen. Überseeflüge starten regelmäßig mit zweistündiger Verspätung.
Venezuela zählt heute zu den gefährlichsten Ländern der Welt, wenn man die Anzahl der Morde pro 100.000 EinwohnerInnen zugrunde legt. Caracas stellt selbst Städte wie Bagdad oder Kabul, wo der Krieg noch nicht richtig vorbei ist, in den Schatten. Das beunruhigt auch erklärte Fans von Hugo Chávez, etwa den Schuster Isidro José Sequeira im Stadtteil Andrés Eloy Blanco. Die Korruption habe es immer gegeben, aber die ausufernde Kriminalität sei ein echtes Problem: „Es gibt zu viele Waffen auf der Straße. Das schränkt die persönliche Freiheit ein.“
Ralf Leonhard ist freier Mitarbeiter des Südwind-Magazins und bereiste im Umfeld der Wahlen von Ende September Venezuela.
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