Fortschritte gab es im „Maghreb-Musterstaat“ Marokko zum zehnjährigen Thronjubiläum von Mohammed VI., des vermeintlich „coolen Königs“, zu feiern. Eine Dekade, in welcher der 1963 geborene Regent, der 1999 auf die bleiernen Jahre von Hassan II. folgte, die Frauenrechte stärkte, die Regionalisierung vorantrieb, Armut verringerte und Infrastrukturen ausbaute. Er kurbelte das Wirtschaftswachstum dank forcierter Handelsabkommen mit den USA und der EU an, bekämpfte den Terror der al-Qaida des Maghreb. Moderate Islamisten wies er politisch – durch die 2008 gebilligte Neugründung der ihm affinen Partei „für Authentizität und Modernität“ (PAM) – in die Schranken und stellte Radikale vor Gericht. Auch die Verbrechen unter der Herrschaft seines Vaters sind Gegenstand von Untersuchungen.
Marokko führte heuer eine Quote zur politischen Partizipation von Frauen ein. Zwölf Prozent der Sitze in den Gemeinderäten sind fortan für sie reserviert. Unter anderem aus diesem Grund wird die Millionenmetropole Marrakesch nach den diesjährigen Kommunalwahlen von einer Bürgermeisterin geführt. Fatima Zahra Mansouri (PAM) ist die zweite Frau in der Geschichte des Landes, die einen solchen Posten einnimmt, nach Asmaa Chaâbi in Essaouira von 2003 bis 2009.
Mit der „Lockerheit“ von Mohammed VI., den KritikerInnen ob seiner Luxusfreude „Ma-jet-ski“ (statt Majesté) tauften – Jetskifahren ist eines seiner Hobbys, neben schnellen Autos – ist es vorbei, wenn es um die freie Presse, den Webjournalismus und Blogs geht. Hier zeichnet sich ein konträres Bild, im nicht nur geografisch westlichsten Maghrebland: das eines repressiven, autoritären Zensurstaates, ähnlich den Nachbarn Algerien oder Tunesien. Drei Themen sind für die Presse ein Tabu: Islam, Königshaus und Territoriumsfragen – wie die auf Unabhängigkeit pochende Westsahara. Ein von der UNO angestrebtes Referendum wird in absehbarer Zeit nicht stattfinden. Mohammed VI. ließe sich maximal zu verstärkten Autonomierechten der von der Befreiungsfront Polisario beanspruchten, rohstoffreichen Region bewegen.
Rund um die Feierlichkeiten zu Ehren des Jubilars diesen Sommer publizierten die Wochen-Magazine Tel Quel – in französischer Sprache – und deren arabisches Pendant Nichane Umfragen über dessen Beliebtheit. Prompt wurden die Gesamtauflagen (rund 100.000 Stück) beschlagnahmt und, wie der Herausgeber beider Publikationen, Ahmed R. Benchemsi sagte, „vernichtet“. Ungeachtet der Tatsache, dass mehr als 90 Prozent die Herrschaft von Mohammed VI. als „positiv“ oder „sehr positiv“ bewerteten. Eine Titel-Geschichte „Der coole König“ ließ man in beiden Magazinen noch durchgehen.
Die internationale Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) ortet einen Verfall der Pressefreiheit Marokkos, wie Jean-François Julliard sagt: „Das Vorgehen ist eines demokratischen Staates unwürdig.“ Im aktuellen ROG-Ranking steht Marokko auf Platz 127 von 175 Staaten, und die Liste der inhaftierten Journalisten werde langsam lang. In einem Land, in dem die Auflagen von einem Prozent der Bevölkerung gekauft werden und die Alphabetisierungsrate bei 48 Prozent liegt. Marokko gehört laut dem Committee to Protect Journalists (CPJ) weltweit zu den zehn Staaten, in denen es die größten Rückschritte bei der Pressefreiheit zu beklagen gibt. Das CPJ forderte beim Staatsbesuch von US-Außenministerin Hillary Clinton anlässlich des Zukunftsforums in Ouarzazate Anfang November „Druck der USA“.
„Seit dem Wechsel am Thron bewegt sich das Land nicht weiter“, erklärt Abubakr Jamai, der 1997 Le Journal gründete. Die kurzen „goldenen Jahre der freien Medien“ begannen nach dem Tod von Hassan II. 1999: Neugründungen, steigende Auflagen und Debatten kritischer Natur. All das stoppte Mohammed VI. 2001.
Sukzessive kommt den freien Medien nach Geldstrafen und Verhaftungen leitender Journalisten neben dem menschlichen auch das finanzielle Kapital abhanden.
Eine vom marokkanischen Presseverband (FMEJ) als „Justiz-Eskalation“ gebrandmarkte Flut von Klagen löste im Juli dieses Jahres Protestaktionen aus: Demonstrativ wurden viele Leitartikel als leere, weiße Kästen abgedruckt. „Bei den Strafen geht es nicht um die Wiedergutmachung moralischer Schäden, sondern um eine Zwangseinstellung der betroffenen Medien“, echauffierte sich FMEJ-Präsident Jalil Hachim Idrisi. Am 30. Juni fiel ein Urteil gegen die Monatszeitschrift Économie & Entreprises (E&E) mit einer Strafe von 5,9 Millionen Dirham (DH), umgerechnet 512.000 Euro, exorbitant aus. Das Wirtschaftsmagazin hatte dem Mobiliarproduzenten „Primarios“ – Teil einer Holding des Königs – illegale Preisabsprachen mit einem Luxushotel in Marrakesch vorgeworfen.
Tags zuvor, am 29. Juni, wurden am Gericht von Casablanca drei Tageszeitungen (Al Jarida al Oula, Al Ahdath Al Maghribia und die reichweitenstarke Al Massae) wegen Diffamierung des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi zu jeweils über eine Million DH (rund 88.000 Euro) „Schadenersatz“ verurteilt, weil sie den Diktator in einem Kommentar kritisiert hatten.
Am ersten September begannen die Anhörungen wegen einer weiteren „Indiskretion“ Mohammed VI. betreffend. Sieben Journalisten und drei Chefredakteure (von der Tageszeitung Al Jarida al Oula, dem Magazin-Auflagenführer Al Ayam und Al Michaal) wurden einvernommen, weil sie eine offizielle Presseaussendung des Königspalasts zum Anlass für weitere Recherchen nahmen. Der König sei an einer Rotaviren-Infektion erkrankt – schwere Verdauungsprobleme verursachende Erreger, die meist über kontaminierte Nahrung und Trinkwasser übertragen werden – und er hätte fünf Tage Bettruhe zu wahren, hieß es von offizieller Seite.
Al Jarida al Oula zitierte einen anonymisierten Arzt, der meinte, die Erkrankung des Königs sei auf Kortison-Asthma-Medikamente zurückzuführen, die das Immunsystem schwächten. Schlichtweg „falsche Daten über die Gesundheit ihrer Majestät“ für die Staatsanwaltschaft, die begann, Ermittlungen gegen Journalisten und Redakteure zu führen, die das Thema aufgegriffen hatten. Doch Al Ayam ließ sich nicht knebeln. So stand in der Folgeausgabe: „Der attraktive König, der mit weniger als 36 Jahren auf den Thron kam, hat enorm zugenommen. Es kursieren Gerüchte, dass dies mit seinem Asthma oder einer anderen Erkrankung zusammenhängen könnte.“
Mitte Oktober wurden die Urteile gefällt: Die Geldbußen für die Medien liegen zwischen 200.000 DH und 500.000 DH, rund 17.000 bis 44.000 Euro. Die Redakteure, die die Recherchen geleitet hatten, müssen drei Monate Haft verbüßen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen bedauert, dass „Zweifel an offiziellen Kommuniqués über die Gesundheit des Monarchen“ nicht möglich seien. Doch besonders hart fällt die Strafe für Al Michaals leitenden Redakteur Idriss Chahtane aus: Er trat jüngst in Rabats Sale-Gefängnis eine einjährige Haft an, denn eine zweite Verurteilung erhöhte sein Strafausmaß. Er hatte zuvor berichtet, dass Marokkos Polizei Mitglieder der Königsfamilie „bevorzugt behandle“. Seine Kollegen berichteten außerdem, dass er daraufhin schwer von Polizisten misshandelt wurde.
Nun greift der Zensurapparat auch gegen ausländische Medien durch. Der französischen Tageszeitung Le Monde wurde der Verkauf dreier Ausgaben um den 22. Oktober verboten. Ausschlag gab eine Karikatur auf der Titelseite aus der Feder des Zeichners Plantu: Marokkos Flagge, aus deren zentralem Stern ein Bleistift den Regenten mit roter Clownnase, wie ihn ein Volksschüler zeichnen würde, kritzelt. Der „geächtete“ Ali Lmrabet, der 2006 in Le Courrier International und zuvor als Chef von Le Journal Hebdomadaire Details zum Vermögen von Mohammed VI. publizierte, setzte seinen kritischen Kommentar unter die Karikatur. Eine weitere Zeichnung prangerte den Prozess gegen den marokkanischen Karikaturisten-Kollegen Khalid Gueddar von der Tageszeitung Akhbar Al Youm an. Jenes Blatt wurde Ende September vom Staat geschlossen – nachdem der Cousin von Mohammed VI. karikiert wurde.
Lmrabet war zwischen Mai 2003 und Jänner 2004 (Ende seines Hungerstreiks) inhaftiert. Doch er wagte es 2005 in einem Artikel, die Flüchtlinge der Westsahara im Lager im algerischen Tindouf als solche zu bezeichnen, und nicht wie die offizielle Sprachregelung als „Entführte der Polisario“. Das brachte ihm ein zehnjähriges Berufsverbot ein. Marokkos freie Presse durchlebe die übelste Phase ihrer Geschichte – seine Heimat steuere auf den Zustand Tunesiens zu, prophezeit Lmrabet, „in dem es gar keine freie Presse mehr gibt“.