Aabid Surti hat eine Mission: Wasser sparen. Deshalb zieht er einmal die Woche durch das indische Mumbai und lässt auf eigene Kosten fremder Leute Wasserhähne reparieren.
Der Sisyphus von Mumbai trägt eine grau-grün karierte Schirmmütze und hellblaue Jeans. Doch er rollt keinen Stein bergauf, er hat sich eine andere Aufgabe gesucht: Er will helfen, Wasser zu sparen. Der Sisyphus von Mumbai heißt Aabid Surti. Jeden Sonntagvormittag zieht der 77-Jährige von Wohnungstür zu Wohnungstür und fragt, ob er kostenlos tropfende Wasserhähne reparieren darf.
An diesem Sonntag beginnt Surti seine Tour am Bahnhof Mira Road in einem Vorort der indischen Metropole. Es ist kurz nach zehn Uhr morgens, doch es hat nur noch knapp unter 30 Grad Celsius. Am Motorrikscha-Stand vor dem Bahnhof bildet sich eine Schlange, in die sich Aabid Surti einreiht. Nach wenigen Augenblicken besteigt Surti einen der dreirädrigen Motorroller und nennt dem Fahrer sein Ziel. Die Fahrt führt durch dichten Rikscha- und Taxiverkehr vorbei an zweistöckigen, quadratischen Häusern mit Flachdächern. „Ich bin eine Ein-Mann-Nichtregierungsorganisation“, sagt Surti. „Ich brauche kein Büro, um etwas für die Gesellschaft zu tun. Nur einen Installateur.“
Sein heutiges Ziel ist der Mira Darshan Complex, ein Wohnhaus mit Eigentumswohnungen. Im Schaukasten an Aufgang D des siebenstöckigen Appartementhauses hängt ein Zettel mit einem blau-schwarzen Logo, das auch auf Surtis T-Shirt zu sehen ist. „Save every drop or Drop Dead“ steht da – „Spare jeden Tropfen oder rutsch mir den Buckel runter“. Solche Zettel hängt Surti immer montags dort auf, wo er am darauffolgenden Sonntag an die Türen klopfen will.
Im sechsten Stock erwarten Surtis MitstreiterInnen ihn bereits: ein Installateur und eine Assistentin. Tejal Shah, eine 37-jährige Frau mit schwerem, schwarzem Zopf und einem kleinen goldenen Stecker im linken Nasenflügel, klopft an eine Wohnungstür. „In Indien öffnen meist die Frauen die Tür. Da ist es besser, wenn ihnen auch eine Frau gegenüber steht“, sagt Surti, der sich in diesem Augenblick im Hintergrund hält. In der weiß lackierten Tür zur Wohnung 173 öffnet sich eine kleine Luke. Es erscheint das rundliche Gesicht einer Frau, die skeptisch die Gruppe vor ihrer Wohnungstür mustert. „Guten Tag! Haben Sie einen tropfenden Wasserhahn?“, fragt Shah. „Wir sind von Drop Dead und wollen helfen, Wasser zu sparen. Deswegen reparieren wir kostenlos Wasserhähne.“ Das Gesicht erhellt sich. Die Luke geht zu, die Tür auf. Wenige Minuten später tropfen zwei Wasserhähne weniger.
Als Surti wieder aus der Wohnung kommt, vollführt er ein Ritual, das sich an diesem Tag noch etliche Male wiederholt: Schuhe an, wenige Schritte über den Gang, Schuhe wieder aus – zumindest, wenn die BewohnerInnen ihn und seine Helfer in die Wohnung lassen. Doch nicht an jeder Tür stoßen die Drei mit ihrem Anliegen auf offene Ohren. Wenn seine KollegInnen und er einmal nicht eingelassen werden, lässt sich Surti davon nicht entmutigen. Er klopft einfach an die nächste Tür.
Ein Stockwerk tiefer bleibt Surti am Fuß der Treppe stehen und erzählt, wie seine Mission ihren Anfang nahm. „Ich wuchs auf der Straße auf, da lernte ich den Wert des Wassers zu schätzen“, sagt Surti. „Später schmerzte es mich, wenn in den Häusern meiner Freunde ein Wasserhahn tropfte. Ich sagte ihnen: ‚Bitte bestellt einen Installateur!‘ Aber Installateure kommen nicht für so einen kleinen Job.“ Jahrelang habe er keine Lösung für dieses Problem gefunden. Und seine Freunde hätten sich immer weniger an ihren tropfenden Wasserhähnen gestört: „Der Wassertank auf dem Dach läuft über, warum scherst du dich um ein paar Tropfen?,“ sagten sie. „2007 las ich dann einen Artikel über Wasser. Darin stand, dass pro Monat hundert Liter Trinkwasser verschwendet werden, wenn ein Wasserhahn einmal pro Sekunde tropft. Da kam mir die Idee ganz plötzlich: Wenn ich nur einen einzigen Wasserhahn repariere, spare ich mindestens tausend Liter Wasser!“, sagt Surti. Manche Wasserhähne tropften Monate, andere Jahre lang, ohne dass sich jemand darum schere.
Während in einigen Teilen Mumbais Trinkwasser aus dem Wasserhahn kommt, sind andere Stadtviertel noch gar nicht ans Leitungsnetz angeschlossen. Ihnen wird Wasser mit Tankwägen geliefert. Auf den Straßen der Stadt liegt Müll herum. In einem Land, in dem Millionen Menschen täglich ums Überleben kämpfen, haben viele Leute drängendere Probleme als den Umweltschutz. Wer sich wie Surti um gesellschaftliche Belange kümmern kann statt um sein tägliches Auskommen, kann schon als privilegiert gelten.
Seinen relativen Wohlstand verdankt Surti seinen Begabungen, die wohl auch für mehrere Kreative gereicht hätten. Surti ist mehrfach preisgekrönter Autor von über 80 Büchern, Schöpfer von Comicserien und Maler.
„Was passiert, wenn Du etwas Gutes für die Gesellschaft tun möchtest?“, fragt Surti. „Das ganze Universum hilft dir!“ An dem Tag, an dem er beschlossen habe, Wasserhähne zu reparieren, habe ihn die Nachricht erreicht, dass ihm die Regierung des Bundesstaates Uttar Pradesh einen Preis für sein Lebenswerk verleihen werde. Das Preisgeld von 100.000 Rupien (etwa 1.700 Euro, beinahe drei durchschnittliche indische Jahresgehälter) steckte er in das „Drop Dead“-Projekt. Zwar fehlt Surti die Zeit, um jeden Tag loszuziehen. Aber seit fast sechs Jahren opfert er einen halben Tag pro Woche, damit andere Wasser sparen.
An der Tür zu Appartment 162 steht „S.M. Dharmik“. Eine Frau öffnet und holt sofort ihren Mann, als sie hört, worum es geht. „Jeder Bürger sollte Wasser sparen“, sagt Sanjay M. Dharmik, ein pensionierter Versicherungskaufmann, mit weißem Bürstenschnitt und Bundfaltenhose.
Riyaz Khan hört diesen Satz nicht mehr. Als Dharmik ihn ausspricht, ist Khan, der Installateur in Surtis „Drop Dead“-Team, der Hausherrin bereits ins Badezimmer gefolgt. Alles, was der 43-Jährige an Werkzeug braucht, trägt er in einem Plastiksack bei sich. Meist kommt er mit einem Schraubenzieher und einem verstellbaren Schraubenschlüssel aus. Khans Handgriffe sind geübt: Schraube lösen, die Abdeckung des Ventils abnehmen, das Ventil ein wenig fester anziehen, Abdeckung wieder draufsetzen, zuschrauben. In wenigen Augenblicken bereitet er so dem Tropfen der Dusche ein Ende. „Ich fühle mich gut, wenn Wasser gespart wird“, sagt Khan.
Dass er nicht allein des Geldes wegen unterwegs ist, sieht man schon an der Bezahlung. 500 Rupien – nicht einmal 7,50 Euro – kostet Surti der Einsatz seines Helfers und seiner Helferin jeden Sonntag. Geld für das Projekt nimmt Surti durch den Verkauf von T-Shirts ein, die er mit dem „Drop Dead“-Logo bedrucken lässt. „Die T-Shirts kosten in der Herstellung 100 Rupien. Ich verkaufe sie dann auf Messen und anderen Veranstaltungen für 100 Rupien plus eine Spende. Manche geben 120 Rupien, manche 500“, sagt Surti. Dass er kein Geld von denen nimmt, deren Wasserhähne er repariert, hat einen einfachen Grund: „Die Leute würden sofort denken, ich wolle ein Geschäft machen“, sagt Surti. Sogar die Ersatzteile zahlt er selbst.
Shah dokumentiert in einem Notizbuch jede besuchte Wohnung, jeden reparierten Wasserhahn. „2007/08 war unser Rekordjahr“, sagt Surti. „Wir haben 1.533 Wohnungen besucht und 3.841 Wasserhähne repariert. Nach meinen Berechnungen haben wir dadurch geholfen, mehr als vier Millionen Liter Wasser zu sparen.“
Am Ende jeder Reparatur klebt Shah einen Aufkleber mit dem „Drop Dead“-Logo im Bad an die Fliesen. „Zum einen ist der Aufkleber ein Zeichen, dass wir hier waren. Zum anderen ist er eine Erinnerung an die Bewohner, weiterhin Wasser zu sparen“, sagt Surti.
Inzwischen gibt es „Drop Dead“-Projekte auch in anderen Städten. „Wenn mich jemand fragt, ob er so etwas auch in seiner Stadt machen darf, gebe ich ihm die Erlaubnis und die Druckvorlagen für das Logo. Er darf damit machen, was er möchte. Es ist dann sein Baby“, sagt Surti. In wie vielen Städten er inzwischen Nachahmer hat, weiß er allerdings nicht. „Ich verfolge das nicht.“
Als sie gegen 12 Uhr aus dem Dämmerlicht des Stiegenhauses ins grelle Licht der Mittagssonne treten, haben Surti und seine MitstreiterInnen in 14 Wohnungen Wasserhähne repariert. Wenn diese Wasserhähne ein Jahr weiter getropft hätten, wären 16.800 Liter Trinkwasser verschwendet worden. „Ich kann nicht zusehen, wie das blaue Gold in den Abfluss verschwindet“, sagt Surti. „Das motiviert mich.“ Der Sisyphus von Mumbai hat sich eine Aufgabe gesucht, die er nie zu Ende bringen kann. „Gerade weil es eine unerfüllbare Aufgabe ist, muss jemand beim ersten Tropfen anfangen“, sagt er. Man muss sich den Sisyphus von Mumbai wohl als glücklichen Menschen vorstellen.
Thomas Krause ist freier Journalist aus Hamburg. Er schreibt am liebsten über Menschen mit einem Bruch in ihrer Biografie und ist Mitglied im Reporter-Netzwerk Textsalon.
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